Titelbild: Beispielbild PixabayDie türkische Millionenmetropole Istanbul liegt in einer der seismisch aktivsten Regionen der Welt, geprägt durch die Nordanatolische Verwerfung, eine tektonische Grenze zwischen der Eurasischen und der Anatolischen Platte. Diese geologische Konstellation macht die Stadt besonders anfällig für Erdbeben, und Experten warnen seit Jahrzehnten vor einem potenziell katastrophalen Großbeben. Die Wahrscheinlichkeit und Stärke eines solchen Ereignisses sind zentrale Themen in der seismologischen Forschung und im Katastrophenschutz.
Die Nordanatolische Verwerfung erstreckt sich über mehr als 1.000 Kilometer von Ostanatolien bis in die Nordägäis und ist eine der aktivsten Störungszonen weltweit.
Sie trennt die Anatolische Platte, die sich jährlich um etwa 2–2,5 cm nach Westen verschiebt, von der Eurasischen Platte. Besonders kritisch ist das Segment unter dem Marmarameer, südlich von Istanbul, das seit über 250 Jahren kein Starkbeben mehr erlebt hat. Das letzte bedeutende Erdbeben in dieser Region ereignete sich 1766, was bedeutet, dass die Verwerfung in diesem Bereich ein erhebliches Spannungspotenzial aufgebaut hat.
Historische Aufzeichnungen zeigen, dass in der Region etwa alle 250 Jahre ein Beben mit einer Magnitude von 7 bis 7,4 auftritt, weshalb ein solches Ereignis statistisch gesehen „überfällig“ ist.
Am 23. April 2025 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 6,2 die Region, etwa 60 Kilometer westlich von Istanbul im Marmarameer, gefolgt von einem Nachbeben der Stärke 5,3 nur 13 Minuten später.
Dieses Beben war das stärkste in der Region seit über 25 Jahren und hat die Sorge vor einem größeren Ereignis verstärkt. Bis Ende April 2025 registrierte die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad über 445 Nachbeben, was auf eine anhaltende seismische Aktivität hinweist.
Die Wahrscheinlichkeit eines starken Erdbebens in Istanbul wird von Seismologen als hoch eingeschätzt. Bereits 2004 schätzte eine Studie des US Geological Survey (USGS) die Wahrscheinlichkeit für ein Beben der Stärke 7 oder höher im Marmarameer innerhalb von 30 Jahren auf 35 bis 70 Prozent. Da inzwischen über 20 Jahre vergangen sind, liegt die Wahrscheinlichkeit heute vermutlich noch höher. Das Kandilli-Observatorium in Istanbul beziffert die Chance für ein Beben der Stärke über 7 bis 2030 auf etwa 60 Prozent.
Nach dem Beben vom April 2025 betonten Experten wie Marco Bohnhoff vom Helmholtz-Zentrum für Geoforschung (GFZ) in Potsdam, dass die Wahrscheinlichkeit für ein größeres Beben durch Spannungsumlagerungen in der Verwerfung gestiegen sei. Das Beben der Stärke 6,2 habe einen Übergangsbereich der Verwerfung aktiviert, der zuvor bereits als kritisch galt. Entweder die Region entspannt sich und die seismische Aktivität nimmt ab, oder die Spannungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für ein Beben der Stärke bis zu 7,4. Die Tatsache, dass Nachbeben in Richtung Osten, also näher an Istanbul, wandern, wird als besorgniserregend betrachtet.
Türkische und internationale Seismologen, darunter Naci Görür und Yoshinori Moriwaki, stimmen darin überein, dass die Frage nicht „ob“, sondern „wann“ ein Großbeben stattfinden wird. Görür prognostizierte bereits Anfang 2025, dass ein solches Ereignis „Hunderttausende“ Todesopfer fordern könnte, insbesondere aufgrund der unzureichenden Bausubstanz in Istanbul.
Experten gehen davon aus, dass ein Großbeben im Marmarameer eine Magnitude von 7 bis 7,4 erreichen könnte, wobei einige türkische Fachleute sogar eine Stärke von bis zu 7,7 für möglich halten. Ein Beben der Stärke 7,4 wäre etwa 60-mal stärker als das Beben vom April 2025 (Stärke 6,2) und könnte in der dicht besiedelten Metropole verheerende Schäden anrichten.
Die potenziellen Auswirkungen eines solchen Bebens sind alarmierend. Über 1,5 Millionen Wohn- und Gewerbeeinheiten in Istanbul gelten als nicht erdbebensicher, darunter etwa 100.000 Gebäude, die stark einsturzgefährdet sind. Viele Bauten, insbesondere aus den 1960er- bis 1980er-Jahren, bestehen aus minderwertigem Stahlbeton und stehen auf instabilem, sandigem Boden, was die Schäden durch Bodenverflüssigung (liquefaction) verstärken könnte. Stadtteile wie Bakırköy, Zeytinburnu, Yenikapı und Silivri sind besonders gefährdet.
Eine Studie der Istanbuler Stadtverwaltung schätzt, dass ein Beben der Stärke 7,5 etwa 14.500 Todesopfer fordern könnte. Andere Experten, darunter Naci Görür, warnen vor deutlich höheren Zahlen, die in die Hunderttausende gehen könnten, insbesondere wenn das Beben nachts oder in dicht besiedelten Gebieten stattfindet. Neben Gebäudeschäden drohen Tsunamis mit Wellenhöhen von bis zu drei Metern, Brände, chemische Lecks, Explosionen und Erdrutsche.
Diese könnten die Rettungsarbeiten erheblich erschweren.
Der internationale Flughafen Istanbul liegt auf instabilem Untergrund, was die Versorgung mit Hilfsgütern nach einem Beben beeinträchtigen könnte. Zudem sind Evakuierungspläne und die Bauaufsicht in der Stadt mangelhaft, was die Krisenbewältigung erschwert.
Trotz der bekannten Gefahr ist Istanbul schlecht auf ein Großbeben vorbereitet. Nach dem verheerenden Erdbeben von Izmit 1999 (Stärke 7,4, über 17.000 Tote) wurden zwar Bauvorschriften verschärft, doch die Einhaltung ist lückenhaft, und viele ältere Gebäude wurden nicht nachgerüstet. Korruption und illegale Bauamnestien verschärfen das Problem. Die Stadtverwaltung unter dem ehemaligen Bürgermeister Ekrem İmamoğlu versuchte, durch Erdbeben-Tests und den Abriss unsicherer Gebäude gegenzusteuern, doch die Fortschritte sind begrenzt.
Die Frühwarnzeit für Istanbul beträgt aufgrund der Nähe zur Verwerfung nur wenige Sekunden, was die Evakuierung während eines Bebens nahezu unmöglich macht.
Dennoch könnten Frühwarnsysteme, wie sie von internationalen Organisationen unterstützt werden, wertvolle Sekunden gewinnen. Die Bevölkerung wird angehalten, Schutzmaßnahmen wie das Suchen von Deckung unter stabilen Möbeln zu üben und Notfallausrüstung bereitzuhalten.
Quellen: Anadolu, Hürriyet, Helmholz Institut und Kandilli-Observatorium

Vorheriger Beitrag
Nächster Beitrag
Themenverwandte Artikel
- Kommentare
- Facebook Kommentare