Das Buch „So weit die Füße tragen“ von Josef Martin Bauer, erstmals 1955 erschienen, wurde jahrzehntelang als authentischer Tatsachenroman vermarktet, der die unglaubliche Flucht eines deutschen Kriegsgefangenen aus einem sibirischen Gulag-Lager schildert.
Der Protagonist Clemens Forell, ein Wehrmachtsoffizier, der zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wird, bricht 1949 aus einem Lager am Kap Deschnjow im äußersten Osten Sibiriens aus und legt über drei Jahre hinweg mehr als 14.000 Kilometer zurück – durch Tundra, Taiga, über Flüsse und Gebirge, oft hungernd, frierend und verfolgt, bis er schließlich über den Iran in die Freiheit und nach Hause gelangt.
Die Geschichte fesselte Millionen Leser, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, mehrfach verfilmt und avancierte zu einem Symbol für menschliche Willenskraft und Überlebenstrieb in der Nachkriegszeit. Sie bot vielen Deutschen, die selbst auf die Rückkehr vermisster Angehöriger hofften, Trost und Identifikation, indem sie die Leiden der Kriegsgefangenen thematisierte und gleichzeitig eine heldenhafte Heimkehr zeichnete.Der Autor Bauer betonte stets, dass der Roman auf den persönlichen Erzählungen eines realen Heimkehrers basiere, dessen Identität er aus Sicherheitsgründen geheim halten müsse.
Dieser Mann, Cornelius Rost, ein österreichischer Wehrmachtsoldat, der unter dem Pseudonym Clemens Forell auftrat, hatte Bauer in den 1950er Jahren seine Erlebnisse auf Tonbändern diktiert. Rost behauptete, durch die harte Arbeit in Bleiminen farbenblind geworden zu sein, und seine Schilderungen klangen so detailliert und plausibel, dass Bauer sie zunächst für bare Münze nahm. Der Erfolg des Buches speiste sich genau aus diesem Anspruch auf Authentizität.
Es war nicht nur ein Abenteuerroman, sondern schien ein Zeugnis der Grausamkeiten des sowjetischen Lagersystems zu sein, das in der westdeutschen Gesellschaft der Wirtschaftswunderjahre gut ankam und Entlastung bot – ein deutscher Held, der trotz allem siegt.
Spätere Recherchen haben jedoch erhebliche Zweifel an der Wahrheit der Geschichte geweckt und sie letztlich als weitgehend erfunden enttarnt. Der Journalist Arthur Dittlmann, der in den 2000er Jahren intensiv zum Thema forschte und 2010 ein dreiteiliges Radiofeature für den Bayerischen Rundfunk produzierte, deckte zahlreiche Widersprüche auf.
So existierte im angegebenen Zeitraum kein Kriegsgefangenenlager am Kap Deschnjow, das als Ausgangspunkt der Flucht dient; geografische und klimatische Details passen oft nicht, und die beschriebene Route enthält Unwahrscheinlichkeiten, die eine alleinige Durchquerung Sibiriens ohne umfangreiche Hilfe unrealistisch machen. Entscheidend ist jedoch, dass Cornelius Rost nachweislich bereits am 28. Oktober 1947 aus sowjetischer Gefangenschaft entlassen wurde und nach München zurückkehrte – also zwei Jahre bevor die im Buch geschilderte Flucht überhaupt beginnen sollte. Er war zudem kein Offizier, wie Forell dargestellt, sondern ein einfacher Soldat, und es gibt keine Hinweise auf Anfragen beim Roten Kreuz oder andere Spuren einer langjährigen Abwesenheit.
Rost scheint seine Erzählung aus eigenen Gefangenschaftserfahrungen, Hörensagen, Berichten anderer Heimkehrer und literarischen Elementen zusammengesetzt zu haben, möglicherweise angereichert durch zeitgenössische Abenteuergeschichten. Bauer, der die Geschichte für marktfähig hielt, prüfte sie offenbar nicht kritisch genug nach und trug so zur Mythisierung bei.
Die Enthüllungen haben das Buch in Deutschland stark diskreditiert; es wird heute überwiegend als fiktionaler Roman mit historischen Anleihen betrachtet, vergleichbar mit anderen umstrittenen „wahren“ Fluchtberichten wie „Der lange Weg“ von Slavomir Rawicz, der ebenfalls als erfunden gilt. Dennoch bleibt „So weit die Füße tragen“ ein faszinierendes Zeitdokument: Es spiegelt die Sehnsüchte und Traumata der Nachkriegsgeneration wider und zeigt, wie stark der Wunsch nach heldenhaften Erzählungen war, die das Leid der deutschen Kriegsgefangenen in den Vordergrund rückten, während es gleichzeitig psychologische Entlastung bot. Als spannende Lektüre und Abenteuergeschichte hat es nichts von seiner Wirkung verloren, doch der Anspruch auf historische Wahrheit ist unhaltbar.
