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Am Hindukusch Nichts Neues -Buchvorstellung und Leseprobe

(Der Artikel erschien zum ersten Mal am 17.11.2018, es ist ene Kopie)

Von der Sinnlosigkeit des Krieges

Die Abenteuer einer jungen Soldatin in Afghanistan nehmen die Handlung ein. Afghanistan, ein Land der Gegensätze, ohne Frieden seit Jahrzehnten im Krieg. Die Ohnmacht der Bundeswehr, die letztlich nur politische Entscheidungen umsetzt, jedoch schnell erkennt, dass die Befreiten nicht befreit werden wollten und mit der Demokratie nach westlichem Vorbild nichts anfangen können und wollen. Am Ende bleiben zerstörte Ideale zurück, eine kaputte Gesundheit und Illusionen von einer besseren Welt, die es nicht geben kann, weil diese nicht gewollt ist. Lesehäppchen: Das Buch, als Taschenbuch oder als gebundenes Buch, ist vorläufig nur über diese Seite erhältlich. Als Taschenbuch (349 Seiten)erscheint es unter der ISBN Nummer: 978-1508589778

Als gebundenes Buch (352 Seiten ) erscheint es unter der ISBN Nummer: 978-3942558785

Als Ebook (352 Seiten) erscheint es bei uns unter der ISBN Nummer: 978-3-96593-075-9

Am Hindukusch Nichts Neues, cover kasaan media, 2016

Am Hindukusch Nichts Neues

Dies ist ein Roman. Die geschilderten Ereignisse sind frei erfunden. Die geschichtlichen Ereignisse sind rein zufällig. Sie entsprechen dem Storyboard dieses Buches. Diese haben sehr wenig oder nichts mit der Realität, schon überhaupt nicht mit lebenden oder verstorbenen Personen zu tun. Das wäre natürlich rein zufällig. Der Roman orientiert sich lediglich an den damaligen und geschichtlichen Gegebenheiten.

Nîmes, République française

Der Roman soll auch eine graue, letzte Hommage an meine Bremer Jahre darstellen Zu Ehren der Freien und Hansestadt Bremen

Natürlich ist dieses Buch dem Titel nach angelehnt an das unsagbar gute, noch immer gültige, Werk von Erich Maria Remarque. Jedoch, hat sich, seit Remarque sein Werk veröffentlichte, sehr wenig verändert. Die Technologie, vielleicht der Stand der Bildung, aber der Wille zum Frieden ließ auch nach dem Zweiten Weltkrieg, nach einigen, wenigen Jahren nach. Wenn es diesen überhaupt jemals gegeben hatte. Dieser Roman beruht auf Reportagen und der tatsächlichen Hilfe vieler. Gewidmet denen, die dem Frieden dienten, zumindest versuchten, diesem Ziel gerecht zu werden. Denen, die fielen für ein sinnloses Unterfangen. In einem Krieg, der laut den Politikern ein Friedenseinsatz war. Was für eine schäbige Lüge, wie der Grund Afghanistan anzugreifen. Die Politik ab 2001 wirkt wie ein schlechtes Drehbuch. Bin Laden war ein Gewächs seiner Zeit und der Gier des gelebten Neokapitalismus. Die, die ihm folgten, ISIS etc., waren die brutalen Enkel derer, die die Schlächter auf den Plan riefen. Jedoch, bin Laden war mit den westlichen Grundwerten wohlvertraut und spielte den Revolutionär einer Kaste von blutrünstigen Reformatoren des Islams. Er war für die neokonservativen Kräfte der richtige Mann am exakten Ort zur passenden Zeit. Er war nicht nur das Synonym des Terrors, sondern schlicht des Bösen, sicherlich nicht des Glaubens Islam. Es war die Zeit der Lügen und der gelebten Intoleranz auf beiden Seiten, Anfang des Jahrhunderts. Ein seit Jahrzehnten schwelender Konflikt suchte seine Akteure und fand diese überraschend schnell. Die Gier derer nach Macht zu befriedigen, die sonst ihre Ziele hätten aufgeben müssen. Das Streben nach Öl, nach einer Grundordnung, die die, die befreit werden sollten, überhaupt nicht wollten. Wahrscheinlich auch nicht verstanden. Die nichts von diesem Frieden kannten, da sie nur den Krieg, die blutige Diktatur einzelner Systeme erlebt hatten. Gewidmet auch denen, wie den Gedanken von Professor Schumacher, der dem vorbauen wollte, was sein politischer Enkel, Gerhard Schröder, aus seltsamen Kadavergehorsam gegenüber einem mutmaßlichen Kriegsverbrecher, George W. Bush, und seiner zweifelhaften Administration tat. Was die Bundesregierung anrichtete, einen Teil des eigenen Volkes verarmen ließ, um diesen unheiligen Krieg der vermeintlichen Christen gegen die Moslems zu führen, ist unbeschreiblich und wird sich in den folgenden Jahren noch soziopolitisch rächen. Die Ignoranz der Tage stellte letztendlich die Weichen in eine Diktatur, die sich nur langsam entwickelte. Die Folgen des 11.9.2001 waren recht für den Masterplan einer sterbenden Großmacht, USA, die sich über alle Regeln der Zivilisation hinwegsetzte. Die CIA ist und war nicht die Heilsarmee, ebenso wenig wie die NSA. Eine ganze Glaubensgemeinschaft wurde zum symbolischen Feindbild für den Feldzug für das Öl, weil man sich nicht anders zu behelfen wusste, weil man, so wahr man einem Gott half, in diesen Tagen des Verrats an allen zivilisatorisch erworbenen Errungenschaften, vergaß, wie viele Soldaten gefallen, wie viele Soldaten im Zweiten Weltkrieg nicht nach Hause kamen. Ein toter Soldat war schon zu viel. Ganze Völker wurden von den Amerikanern bespitzelt, belauscht und gedemütigt. Daraus entwickelten sich populistische Personalien, wie Erdogan und sein Hang zur Todesstrafe, sein Hang zu Unterdrückung ganzer Völker. Trump dürfte das schlimmste Beispiel sein. Jedes Wort über ihn ist zu viel. Für den, den man vermeintlich jagte, Osama bin Laden, wurde es ein bequemes Spiel: Katz und Maus. Niemand sah ihn, hörte ihn, nur das Säbelrasseln der Amerikaner, die die Geister selbst gerufen und geduldet hatten, war laut vernehmbar. Von Bin Laden kannten wir, die Bürger dieser Welt, nur den Schatten, nicht aber seine Version der Geschichte. Vor einem ordentlichen Gericht hätte man seine Ansichten und die Darstellung des unbeschreiblichen Verbrechens vom 11. September 2001 und anderer, zumindest hören können. Mit geschickt inszenierten Bildern aus dem Lageraum des Weißen Hauses untermalt, wurde Bin Laden dann gerichtet oder zum Schweigen gebracht, je nach Betrachtungsweise. Junge Menschen, die nach Afghanistan gingen, kamen gebeugt und seelisch zerstört wieder aus einem Land ohne Hoffnung, ohne dem Anspruch auf den, auch in Kabul, ersehnten Frieden. So blieb eine weitere Lüge der internationalen Politik, wie ein böser Fluch auf den Menschen, Angst durch die verschärften Sicherheitsgesetze ermöglichte die Kontrolle, die Errichtung von einer scheinbaren Demokratie in der Demokratie, ohne diese eine Form der gewollten Diktatur zu nennen.

Marinella van ten Haarlen Nîmes / République française, 2017 Bloubergstrand, Cape Town / South Africa, 2017

Unverhoffte Rückkehr Anfang Mai 2010, Hansestadt Bremen

Der ICE bremst so plötzlich, so heftig ab. Ein rotes Signal reißt mich aus den nicht enden wollenden Tagträumen. Aber ich will in den Träumen bleiben, ich will mich nicht losreißen, weil die Realität zu schmerzhaft ist. Die sonst so bodenständige Schwerkraft hört auf zu existieren. Es klappert, vibriert, schaukelt. Es tost. Es rattert, ist still, gleitet dahin, rattert wieder. Verstummt fast mit einem gequälten Pfeifen. Es klingt wie ein träges Atmen. Wie ein knirschender, monotoner Blasebalg. Langsam, mit starkem Widerwillen, kehre ich zurück in diese so grausame, bedrohliche, jedoch so beharrliche Wirklichkeit des realen, des existierenden Lebens. Ich sträube mich davor, dann aber reiße ich mich los aus dem friedlichen Wachtraum einer Welt ohne Menschen, ohne mich. Ohne Gegenstände, einfach aus einem bestehendem Vakuum. Ich will nur in dem Licht treiben. Ich strecke, recke den seelenlosen Kopf aus meinem so ovalen, gleichförmig geschwungenen Schneckenhaus, das ich von innen bemalt, verziert habe; in dem ich glücklich bin, in dem ich nichts mehr bin als der nackte Körper. Es riecht, es stinkt förmlich, wie eine mit Urin angesetzte Mischung. Eine Übelkeit erregende Melange aus abgestandenem, gezuckertem Kaffee aus silbernen Thermoskannen. Der Geruch nach schalem, über den blauen Teppich laufenden Biers aus zerknautschten, nunmehr über den Boden scheppernden Büchsen. Dazu mengt sich der Gestank von billigem, aus Asien importiertem Blümchen-Parfüm und faulenden, vergorenen Exkrementen aus der Toilette hinter mir. Die Tür geht automatisch auf und zu, auf und zu. Jede Minute zweimal, wie ein warmer, stickiger Wind, der den Automatismus, Mechanismus unsichtbar antreibt. Wie das Leben an sich. In sich. Ein Kind schreit, weint. Jetzt passiert der Waggon, die vielen Waggons hinter diesem, wie ein, in den sich auftürmenden, schäumenden Wellen schlingerndes Schiff mit lautem, deutlich vernehmbarem metallischen Knacken, wohlvertrautem Klicken eine der vielen, folgenden, der letzten Weichen. Die metallenen Räder drehen sich wieder schneller, gleichmäßiger. Die ersten, wichtigen, nahezu stechenden Sonnenstrahlen, des nach diesem kalten Winter beginnenden Frühlings, fallen warm- wie ein leuchtender, in sich ausgebreiteter Fächer durch das getönte, geschwungene Panoramafenster der nahezu leeren, unbesetzten 2. Klasse. Ein Servicewagen, der von einem lustlosen, unaufmerksamen Mitarbeiter geschoben wird, klappert. Klingt hohl, wie leer. Er eckt in einem der engen Gänge an. Endstation Bremen, Bremen Hauptbahnhof. Es ist 10 Uhr. Kurz danach. Ich sehe auf die schwarzen, filigranen Zeiger, die sich in Zeitlupe zu bewegen scheinen. Wie meine Erinnerung, wie mein Leben. Mir wird klar, ich komme ohne Beine, nur mit gerade verheilten Stümpfen nach Hause, nach Deutschland. In meine, früher so geliebte Heimat. Bremen, kehre ich nun zurück? Finde ich zu mir, erneut? Aber was ist Heimat? Die saftig grünen Wiesen mit Buntgefleckten, die abseits stehen an der verrosteten Badewanne, die zur Tränke umfunktioniert ist, gemächlich wiederkäuen. Wo ist sie, diese Heimat? Wer hat diese mir genommen? Ein Stück Fleisch ist aus mir herausgeschnitten. Aus mir, mir nichts, dir nichts, kupiert? Arthur Rosebery spendet mir vom MP3 Spieler Spread a Little Happiness. Die Erinnerung an Afghanistan, an den Straßen-Bazar. An das kleine, zierliche Mädchen, das im Auftrag seiner Mutter die Platten ihres ehemaligen sowjetischen Liebhabers verkaufte. Woher der Vater des kleinen Mädels die alten Schellackschätze hatte, bevor ihn Mujaheddin an den Betonsockeln einer ehemaligen Tankstelle aufhängten, mit langen Säbeln zerteilten, wusste niemand mehr. Er war einfach vergessen wie die abscheuliche Tat, die sein Leben beendete.

Am Hindukusch Nichts Neues, cover kasaan media, 2016

Wer hat es gewagt, mir den Glauben an alles zu nehmen, diesen zu verkehren in seltsame, unbewusste, stumpfe Gleichgültigkeit? Nach allem, was ich, sah, erlebte, in diesem so fremden, kargen, wunderschönen Land der Paschtunen? Das Land, für das ich kämpfte? Für den Sold eines jeden Soldaten. Aber gegen welchen Feind eigentlich? Gegen uns selbst wahrscheinlich, für die Macht und die ungestillte Gier einiger. Weniger für uns. Nein, für den alleinigen Glauben, dieser zivilisierte, der heilige, aber einzige christliche Glaube. Es war wie bei den alten, längst vergessenen Kreuzrittern, die gen dem fernen, wohl aber so wertvollen Jerusalem ritten, liefen, segelten der Sonne entgegen. Mit funkelnden, schweren Rüstungen, entgegen derer, die sie für Bekämpfens wert hielten. Es wurde nachträglich in der langen, absurden Geschichte der Menschheit zu einem unbestrittenen, blutigen Ruhmesblatt umgeschrieben. Die geschlagenen Akteure bewährten sich in diesem Stück, in dem sie sich selbst nicht mehr zurechtfanden. Richard Löwenherz kam hoch zu Ross zurück nach England, um seinen intriganten Bruder zu vertreiben. Robin Hood, ein, zu seiner tristen Zeit ausgewiesener Dieb, gefürchteter Räuber wurde in den Dekaden danach zu einem Volkshelden verklärt, verzaubert. Die gelebte, die verstandene Wahrheit sah und sieht immer anders aus. Waren wir die modernen Tempelritter, die kamen, unterlagen wir auch dieser unerklärten Mystik? War das versiegende Öl diesmal der Schatz? Der gefestigte Glaube, der eine Gott nur ein Vorwand? Wenige Freunde, viele erkannte und unentdeckte Feinde, Spitzel, Drogenhändler, kleine und große. Schieber, Kriegsgewinnler. Kriegsverlierer, gedemütigte, durch Jahrzehnte geprägte, tief traumatisierte Frauen, die sich aus der Burka befreiten, den nächsten Tag wieder anzogen, weil sie sich nackt fühlten. Oder, weil sich ihre Männer so fühlten inmitten einer zerrissenen, durch den fortwährenden Krieg geprägten Gesellschaft. Kinder ohne Perspektive, mit starrem, kaltem und entschlossenem Blick. Für wen kämpfte ich? Für wen jetzt? Wenn nicht für mich selbst, sicher nicht mehr für meine zivilisatorisch gefärbten Überzeugungen. Deutschland? Europa? Die freie, so entwickelte Welt, die Krieg führen muss, um sich selbst am Leben zu erhalten. Wie ein gefräßiges, böses Raubtier, das die Schwachen in der Herde der Völker erlegt. Nein, der Glaube, der christliche Glaube? Nein, diesmal ist es die NATO, deren wirtschaftliche Interessen. Die der mächtigen, reichen Öl- und Waffenlobby, der gescheiterten Banken, derer, die gierig den Bonus am Ende des Jahres erwarten. Und auch bekommen. Auf immer und ewig. Europa und Amerika. Ein Handy klingelt, zwei Reihen weiter, eine alte Melodie spielt auf. Etwas aus den 1930er Jahren. Ein Stück aus einem verrauchten, vom feinen Parfüm und dem Schweißgeruch der erschöpften Tänzer erfüllten Club, in dem abgegriffene, cremefarbene Elfenbeinfilterspitzen auf dem polierten runden Mahagoni liegen. Die Band macht gerade Pause, auf die abgestellten Instrumente fällt das fahle Mondlicht durch ein milchiges Fensterglas. Ein Champagnerkorken knallt. Frauen mit langen Federboas, grell geschminkt mit dickem Rouge, kichern in einer Ecke. Ich stehe auf, will tanzen, wo ist mein Tänzer, wo ist der Mann, der nach herbem Rasierwasser duftet? Es kommt eine knabenhafte Frau im schwarzen Zweiteiler, die Nadelstreifen sind auf den Stoff wie lange Nähte aufgezogen, diese fransen hier und da schon einmal aus. Die Kapelle spielt nicht, die Figuren, die Szene in meiner Fantasie verschwimmt. Sie platzt mit einem lauten, unerbittlichen Knall. Ich will swingen, sehe meine nicht vorhandenen Füße, die so tänzeln, die sich so schnell bewegen können. Wenn sie nur da wären, wo sind sie? Vor meinen Augen sehe ich das zerfetzte Fleisch in der Sonne Afghanistans faulen. Knochige, hungrige Hunde, die an meinen blutigen Unterschenkeln mit ihren spitzen, langen Zähnen kauen, beißen. Reißen. In den gierigen Mäulern von Hyänen und Schakalen werden die Reste meiner Knochen zerkaut. Ich will sie zurück, die Beine gehören mir. Ich schreie still. Für einen winzigen, fast unmerklichen Moment lenkt es mich ab. Ich versuche wieder zu entfliehen. Immer noch blättere ich in der bunten Frauenzeitschrift. Sehe sehnsüchtig die kommende Sommermode, kurze Röcke, wehende Miniröcke. Lange, bunte Kleider. Wer war ich, wer bin ich? Was bin ich? Ein armseliger Krüppel. Eine Beinlose aus Afghanistan! Der mit dem verlebtem, kantigem Gesicht, der unrasierte Mann, der mir gegenübersitzt, nervös auf seinem Platz herumrutscht, versucht schon die ganze Zeit mit mir ins Gespräch zu kommen. Er lächelt immer freundlich, hilflos, blickt verschämt auf die schmerzenden Stümpfe, um die die schlaffe Uniformhose gewickelt, geknotet ist. Er liest derweil BILD–Zeitung. Jetzt wirft doch die hilflose politische Opposition der Regierung vor, dass sie wegen der Tanklastzüge bei Kunduz lügt. Ein jeder von uns ahnt das. Zumindest, die die da waren. Das ist wieder eine Schlagzeile wert. Blut verkauft Auflage. Generäle und Minister Kriege. Die Politik macht die Kriege für Zeitungen. „Niemand glaubt euch Politikern mehr!“, schreie ich mir stumm, wie gelähmt, zu. „Ihr sollt das Volk regieren, nicht das Volk verwahren. Für eure eigenen, ach schäbigen Interessen, die uns als unbedingten Fortschritt verkauft werden.“

Damals in Afghanistan

Schneewittchen in Camp Nikolaus

Mein erster Tag in dem fremden Land war nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Wir waren die Besatzer und wir waren nicht willkommen. Das spürte ich schon von der ersten Minute an, als wir, eine halbe Kompanie Berufssoldaten auf dem kleinen Flugfeld in Bagram ankamen. Es war staubig, der Wind drehte ständig, meistens blies er aus Westen. Der erste Tag war das Chaos, das nur der Krieg inszenieren konnte. Eine Patrouille, die von Camp Nikolaus, in dem ich meine Zeit am Hindukusch verbringen sollte, hatte einen VW Bus angehalten, eine gewöhnliche Kontrolle. Soweit so gut. In dem VW Camper aus 1978 saßen sechs Mädchen aus dem Ruhrgebiet. Eine von ihnen war eine Studentin der Sozialwissenschaften, die sich darüber ärgerte, die falsche Abfahrt genommen zu haben. Ich wollte es nicht glauben. Nun stand der Bus in dem Innenhof des Camps, wurde durch Sprengstoffhunde von allen Seiten beschnüffelt. Die orientalischen Schönheiten mussten in einer Ecke warten, bewacht von vier schwer bewaffneten Soldaten der Bundeswehr, die Armee, die sie aus ganz anderem Zusammenhang kannten. Aus dem Lautsprecher des rostigen Gefährtes dudelte irgendein Schmachtfetzen aus den 1950er Jahren: „Are you lonesome tonight?“, gesungen von einer Frau- ich kannte es nur von Elvis. „Wir haben sechs Pässe, alle deutsch, alle echt. Die Damen sind in den Urlaub gefahren und wollten, mit der Vermittlung ihres Imams zu ihren Freunden in die Berge- die kämpfen nämlich für den Gegner. Die Route über Istanbul“, schrie ein Feldwebel. Seine Stimme überschlug sich zunächst, dann versagte sie. Ich blieb stehen und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Den sechs jungen Frauen war eher zum Weinen. Unserem Offizier vom Dienst auch. „Das ist Kampfgebiet! Hier sind die Guten, in den Wäldern die schlechten Jungs. Die Taliban. Verstehen Sie das? Oder ist Ihnen das zu hoch?“ Niemand wagte sich zu rühren, verständlich, denn der Offizier keifte in Hochform. Selbst der Gegner hätte es hören können. Wahrscheinlich hörte er es. „Ich frage mich, wie sind Sie durch die Kontrollen gekommen, mit der Rostlaube und dem Plunder, den Sie mit sich führen? Wissen Sie, was das Deutschland kostet, Sie zurück nach Wanne–Eikel oder Essen Krey zu transportieren?“ Seine Stimme überschlug sich erneut. Er war rot vor ungezügeltem Zorn. Keine der Frauen antwortete. Ihnen hatte es die dünnen Stimmchen verschlagen. Was hätten sie auch sagen sollen, können. Müssen. Eine von den geschlagenen Kämpferinnen musste auf Toilette. Der OvD verzweifelte an der Situation. Am Schützenpanzer herrschte ein wenig Lagerfeuerstimmung- wie bei den Pfadfindern, jemand hatte ein Feuer gemacht, die unfreiwilligen Urlauberinnen froren später mit uns. Niemand wollte die Mädchen einsperren. „Es ist Afghanistan. Osama- bin- Laden und seine Terrorfrüchtchen. schon mal was vom 11. September gehört? Na gut, da waren Sie neun Jahre alt. Oh, mein Gott.“ Der Major wollte sich nicht mehr beruhigen. Er stampfte mehrfach mit dem „Heldenstiefel“ auf dem matschigen, braunen Boden herum. Wütend rannte er danach vor den zu Tode verschüchterten Frauen auf und ab. Er hieß Stengler. Das war vielen Warnung genug. „Sie kommen aus Köln, aus Deutz, sind wahnsinnig genug, nach Afghanistan zu fahren? Ich komme aus Rodenkirchen. Das ist doch kein Karneval hier, sondern blutiger Ernst.“ „Uns ist doch bis jetzt nichts passiert!“, stellte eine der Frauen keck fest. Zumindest konnten sie sprechen. „Mensch, setzen Sie Ihre Pappnase ab, Sie verhindertes Funkenmariechen.“ Die orientalische Schönheit zuckte zurück, begann sofort laut zu schluchzen. Stengler keuchte laut. Jeder Schritt war zu hören. Selbst das Knacken des Feuers. „Klassen, die Frauen sollen Essen fassen, sich duschen, dem Sani vorgeführt werden, dann kommen sie in den 6-er Container. Stellen vorher die Heizung an, sonst erfrieren die Schneewittchen noch, bevor sie in Kabul abfliegen. Ich muss den Stab informieren. Stellen Sie zwei Mann ab, Wachposten vor die Tür. Die Damen haben Stubenarrest, bis sie abfliegen.“ Major Stengler fiel vollkommen aus der Rolle, er drehte sich wieder zu den Frauen um. „Ich bin ein Anhänger der modernen Kriegsführung: Ihre Rostlaube mit Kölner Kennzeichen ist beschlagnahmt. Die Schilder bekommen Sie mit, damit Sie den Wagen ordnungsgemäß bei dem zuständigen Straßenverkehrsamt abmelden können.“ Ein Esel schnaubte in diesem Moment, als würde er laut lachen. Der Mond schien hell, blendete den Offizier, der sich plötzlich eine Sonnenbrille aufsetzte. Es hatte etwas von einer bizarren Komödie. Eine der vielen in Afghanistan. „Halt’s Maul, Ede!“, schrie Stengler das Tier der Pioniere an. Der Vierbeiner lachte wieder auf. Diesmal lauter. Die Pioniere verharrten in ihrer Position wie Falschgeld. „Nehmen Sie doch diesen Esel mal aus der Linie weg!“, wies Stengler einen der Pioniere für den Nachteinsatz an. Als der Schwanz des Tieres hinter dem Lkw verschwunden war, der seitlich parkte, musterte der Major die Frauen einzeln. „Wer von Ihnen ist auf die Idee gekommen, nach Afghanistan zu fahren?“ „Wir alle, wir haben Ferien. Wir wollten ja auch zurückfahren und es war billiger mit dem Auto zu fahren, der Iran hatte nichts dagegen, dass wir da durchfuhren. Warum haben die nichts gesagt?“ „Weiß ich auch nicht. Sicher nicht!“, stöhnte Stengler. Er war sinnbildlich kurz davor, durchzudrehen. Eine riesige Sandwolke zog über das Camp, langsam gingen die kleinen, aber kalten Kristalle nieder. „Nehmen Sie Ihre Sachen aus dem Fahrzeug, diese werden noch durch Sichtkontrolle von uns untersucht. Dann gehen Sie in die Ihnen zugewiesenen Räume.“ In diesem Augenblick explodierte unweit einer Granate, dann eine zweite. Die Erde bebte kurz. „Sehen Sie, was ich meine? Hier ist tatsächlich Krieg und kein Spielplatz für Kinder, die gerade aus der Schule kommen. Wegtreten.“ Keine der Frauen verstand, was Stengler gesagt hatte. Bestimmt nicht, dazu reichte weder der Charakter, geschweige denn die Intelligenz der Grazien. Stengler drehte sich um und ging in den Kommandocontainer. Kurz danach ging ein Licht an. Eine weitere Granate explodierte in weiter Entfernung. „Nehmt dem Alten das nicht übel, er meint das alles nicht so, was er sagt!“, meinte einer der Pioniere. Peer war durch Trinkfestigkeit und Arbeitsscheu beim Brückenbau bisher aufgefallen, wie mir einer der scheinbar irren „Leichtmatrosen“, in Camp Nikolaus versuchte zu vermitteln. Der VW Bus war auf den Namen Abdullah getauft worden. „Abdullah“ hatte zudem ein Problem mit der Zylinderkopfdichtung. Eine kleine Pfütze Öl sammelte sich unter dem Fahrzeugboden. Die Mädchen konnten sich darauf einstellen, dass sie in den folgenden Tagen vom MAD durch die Mangel gedreht wurden. Sicher war das angenehmer, als von den Taliban der Haut beraubt zu werden. Ein Hummer der Amerikaner traf am Tor ein. Alle jungen Frauen weinten, das Fahrzeug wurde in eine der zahllosen Garagen gebracht und ich war im Krieg angekommen. Aber der Abend war noch jung und es sollte noch mehr geschehen, was ich in Deutschland nicht für möglich gehalten hätte.

Am Hindukusch Nichts Neues, cover kasaan media, 2016

Tom, der in den nächsten Tagen die Heimat fahren sollte, saß käseweiß in der Ecke. Zwei Feldjäger standen neben ihm. Die Bewachung war strickt. Ständig plapperten die Amerikaner, die sich um heimgekehrte Hubschrauberpiloten scharrten, wie Barbie um Ken, einen regelrechten Kultstatus in der Mitte von Nirgendwo entwickelten, von einer neuen Offensive, die dem Feind, den ich nur aus Berichten oder Erzählungen kannte, endgültig den Gar ausmachen sollte. Alles war wahrscheinlich eine der vielen Verbaloffensiven. Im Krieg durfte man nichts glauben- wer das tat, war tot, selbst im lebenden Zustand. Was war der vorgeschobene Posten, zu dem ich eingeteilt worden war? Um diesen wurde ein Geheimnis gemacht, als wäre es eine besondere Lage. Ich war gespannt. Gleich bei der Ankunft in Camp Nikolaus erkannte ich den wahren Geist der Operation in Afghanistan. Hier wurde mit vielerlei Maß gemessen. Ein junger Gefreiter, Tom, stand im Verdacht für die CIA in Kabul zu arbeiten. Wie konnte man nur so dumm sein, für die CIA zu arbeiten, dachte ich bei mir. Ich wusste in dem Moment nicht, ob es schlimmer war, für eine angeblich befreundete Nation, mit der wir zusammen in Afghanistan kämpften, zu spionieren, oder für die CIA zu arbeiten. Wahrscheinlich beides. Ich hatte ein gestörtes Verhältnis zu Amerikanern, schon bevor ich nach Afghanistan kam. Alles bestätigte sich am Hindukusch, was ich mir anhand der Geschichte um den Vietnamkrieg zusammenreimte. Was anderes war Afghanistan eigentlich auch nicht. Das Gerücht nahm gleich zu Anfang, als ich in den vorgeschobenen Posten, nach Nikolaus kam, freien Lauf. Wahrscheinlich wurde das Camp von Generationen von Soldaten vor uns, am 6. Dezember 2001 gegründet. Gerüchte nährten den Krieg, über den Feind, über die Gefallenen. Um Realitäten ging es nicht unbedingt in einem Krieg, der hoffnungslos verloren war, bevor er begonnen hatte. Realität zählte nur bei den Profiten. Das Camp bestand aus Sandsäcken und ineinander verschachtelte, wie Legosteine verbaute, Container.

Heiko, der mit mir zusammen aus Deutschland gekommen war, auf diesem unruhigen Flug, sah sich noch in den wenig wohnlichen Fertighäusern um. Es roch nach Königsberger Klopsen, und mir schmeckte davon nur die Rote Beete. Allenfalls noch der versalzene Reis an einem wackelnden Tisch im Casino. Unser unmittelbarer Vorgesetzter war Major Stengler, ein unnahbarer, jedoch sehr sympathischer Mann. Der rheinländische Akzent war durchaus noch zu hören. Stengler war von Anfang an dabei, und ich kam mit Carmen in eine Stube. Sie war die erste Generation von Frauen, die in Afghanistan gekämpft hatten. Dementsprechend zurückhaltend war sie. Sie war zweimal verletzt worden, einmal am Fuß, ein Splitter einer Granate bohrte sich genau in den Fußknochen, beim anderen Mal, und darüber sprach sie nicht, im Unterleib. Carmen schien aber bei bester Laune, genesen und kümmerte sich keinen Deut um die, die ihren knackigen Arsch in der Kantine auf Servierten malten. Das Leben im Camp berührte sie nur in den militärischen Dienstzeiten. In unserer Stube zuckte die Neonleuchte, der Generator draußen war vollkommen überfordert. Carmen sprach kaum, manchmal murmelte sie etwas, vielleicht redete sie auch mit sich selbst. Wahrscheinlich erzählte sie sich selbst Witze. Sonst lackierte Carmen sich die Nägel in Nuttenrosa. Ich wunderte mich. Mit mir allerdings wollte sie nicht reden, quatschen, schweigend las sie später Lassie aus der Bibliothek. In der Nachbarstube lief der Fernseher und eine Aufzeichnung von Dalli Dalli mit Hans Rosenthal. „Kannst du einem Mann die Stadtmusikanten machen? Das können doch alle Mädel aus Bremen!“ Ihre Stimme klang wie die einer Straßendirne und ich riss die die Augen auf. „Leider ist mein Erfahrungsschatz auf dem Gebiet nicht so groß wie deiner, ich würde es auch eher einem Mädel machen.“ „Ne Lesbe, Hammer, kesse Väter in der Truppe.“ Tom Neumann allerdings konnte diese Folge von Dalli Dalli, danach Flipper, dem Freund aller Paschtunen nicht mehr sehen, der saß dafür um diese Zeit im kahlen Bunker. Carmen lachte ein paarmal darüber. Über was eigentlich, wurde mir nicht so recht klar. Alles in allem hielt sie den Gefreiten für zu dumm, um für eine Organisation wie die CIA in Kabul zu arbeiten. In dem Verdacht stand er allerdings. Camp Nikolaus besaß zahlreiche dunkle Geheimnisse, die ich an dem Tag noch nicht begriff, aber bald sollte sich mir eine Welt eröffnen, die ich niemals zuvor in der Form vermutet hätte. Mich trieb die Neugier nochmals ins Casino.

Heiko gab die Karten. Wir spielten Offizierskat, er trank dazu eine Cola und ich erzählte ihm über Bremen, durch das er auf dem Weg nach Hamburg zu einem Konzert, vor Jahren einmal, gekommen war. Jörn gesellte sich für einen Augenblick dazu, kippelte mit einem Stuhl wie ein aufgeregter Kasper. Er wollte in den Krieg. „Für mich ist es eher erschreckend, dass jemand für die CIA in Kabul uns bespitzelt! Man sollte ihn aufhängen. Ein Standgericht tut es in diesem Fall auch“, Jörn war drei Tage vor der Entlassung nach Hause. Sein Gesicht war quittegelb. Etwas mit der Galle, der Krieg war ihm auf die Verdauung geschlagen. Er lebte noch zwei Wochen, aber das Kommende ahnte er an diesem Abend nicht. Wir auch nicht. Vielleicht war es gut so. Seine Leber war kaputt, sicherlich nicht vom Suff, sondern durch eine Krankheit, wie ich Monate später erfuhr. Hepatitis munkelten die Sanis. Zusätzlich litt er unter Depressionen. Wie gut, dass er seinen Tod nicht im Voraus ahnte. Wie niemand von uns den Zeitpunkt wusste. Heiko allerdings hatte schon mehr wahrgenommen, und ich wusste nicht, ob er das Gras wachsen hörte oder einfach ein Aufschneider war. Vielleicht beides. Aber vieles, von dem, was er an diesem Abend sagte, traf zu, bewahrheitete sich erst Monate später. Heiko verfügte in seinem persönlichen Wahnsinn über Weitblick. Als die Sonne aufging, saßen die Mädchen noch immer im Container, sie durften unter strenger Bewachung an das Frühstücks-Buffet, um dort etwas zu essen holen. Dann wurden sie wieder zu ihrem Container eskortiert. Im Gänsemarsch lief das Schauspiel ab, es wirkte lächerlich. An der Wand hing ein Konterfei von Karl Theodor zu Guttenberg, dem allseits unbeliebten Bundesminister für Verteidigung. „Ich frage mich, ob der Adelige dieses Zeug fressen würde?“, Heiko blickte auf seinen Teller, und schob ihn dann von sich.

„Iss Obst und Cornflakes mit Zucker und Milch, dieses Scheißfett schmeckt überall gleich auf dieser Welt. – Nein, der Minister nimmt sicher Schümli zum Frühstück.“ Noch sollte es ein paar Minuten ruhig bleiben. Heiko fügte sich in sein Schicksal, nahm eine riesige Portion Cornflakes und Zucker in die Schale. Ausgangspunkt aller Überlegungen und späteren Diskussionen an diesem Tag, war der Absturz eines Hubschraubers, dessen Niedergang wir von Camp Nikolaus aus beobachten konnten. Plötzlich gingen die Sirenen an. Sie klangen wie kehlkopfkranke Frösche. Der Helikopter, ein altersschwacher, im Fachjargon Bell UH-1 Iroquois genannt, der eigentlich bei der Bundeswehr schon ausgemustert war, hatte die Baumwipfel unweit der Ebene, auf dem das Camp installiert war, gestreift, und war dann ins Trudeln geraten. Mit rauchenden Turbinen drehte er sich etliche Male und verschwand hinter einem von Kiefern überwachsenen, ersten Bergkamm mit weithin vernehmbarem Scheppern. Seltsamerweise explodierte dieser Helikopter nicht. Marcel, der Pilot, zumindest laut Papieren, war sofort tot. Ihn durchbohrte die Spitze eines Stammes der Länge nach. Wir tauften ihn „Schaschlik“. Holger und Jens aus dem 2. Zug rissen ihn, nachdem der Stamm gesägt worden war, förmlich aus dem Sitz in der Kanzel und starrten wie gebannt auf den natürlichen Spieß. Wir waren wenige Augenblicke später an der Absturzstelle angekommen. Die Dingos bildeten um uns einen Kreis, den Absturz konnte niemand überlebt haben. Holger besah sich das Wrack von allen Seiten. Ein Adler stieg in den Wipfeln hinter ihm, in dem angrenzenden Wald auf, das Schlagen seiner Flügel war für wenige Augenblicke das einzige Geräusch des Krieges. Die Trümmer rauchten ein wenig, Öl breitete sich auf dem groben Kiesgestein aus. Es tropfte langsam, zäh, wie alles in dem Land lief es in Zeitlupe. Mit einem hohen Zischen verebbte der noch langsam laufende Rotor schlussendlich. Ein Iltis Geländewagen kam den Berg hoch, die Pioniere brachten die Leichensäcke- „Der kann das Ding doch nicht alleine geflogen haben!“, meinte Holger, drehte sich ungeschickt eine Zigarette und ging wieder zurück an seinen Wachpunkt, rechts oben. In diesem Moment fühlte er sich das erste Mal richtig verarscht. Wir wurden beobachtet. Wahrscheinlich von allen Seiten. Das kleine Tal konnte schnell zur Falle werden, aus der auch wir nicht mehr herauskommen konnten, nur zu einer Seite, nach unten hin, in die Ebene, war ein möglicher Fluchtweg. Die Taliban waren in der Nähe. Es war eine Viertelstunde vergangen. In dem Helikopter fand Leutnant Beck, eher durch Zufall in einem riesigen Sack, zuerst wollte ich es überhaupt nicht glauben, Diamanten, Gold, und Bündel von US-Dollar Noten. Die Welt war seltsam, alles drehte sich nur noch um: Wer konnte mehr bezahlen und wo konnte man noch Profit machen. Zwei der Besatzungsmitglieder fehlten, waren innerhalb von Minuten nach dem Absturz völlig verschwunden. Es gab Hufabdrücke von Pferden in der Nähe, jedoch, wahrscheinlich waren diese älter, aus den Tagen davor. Der Pilot musste etwas über die Fracht gewusst haben. Es war jedoch nicht ein gewisser Marcel, sondern ein Amerikaner von „Loops“, einer weiteren Sicherheitsfirma. Die deutschen Hoheitszeichen am Helikopter waren richtig, die Kennung war echt, selbst die Ausweise von der Etappe, Transportscheine, etc., alles war in Ordnung, nur keiner der Flieger war ein Deutscher. Nun war guter Rat teuer. Holger wähnte eine Schnittstelle zwischen der Bundeswehr und den zahllosen Sicherheitsfirmen, die sich in Afghanistan tummelten. Was natürlich auf den ersten Blick Unsinn war. Aber es war eine Möglichkeit, die nicht von der Hand zu weisen war. Landsknechte, wie im 30-jährigen Krieg. Afghanistan war über die 30 Jahre schon hinaus, lange, und würde auch nach 40 Jahren nicht zur Ruhe kommen. In diesem Augenblick war ich mir sicher. Von Norden her kamen dunkle Wolken. Rauschgifttransporte, die den Krieg zu einem profitablen Geschäft für die Sicherheitsagenturen machten, dafür allerdings, wollte ich in Afghanistan nicht kämpfen. Der Stab schwieg sich aus- was wollte er auch dazu sagen?

Am Hindukusch Nichts Neues, cover kasaan media, 2016

King Karzei und die Regionalbahn nach Dellbrück

Es gab eine der wenigen Spuren zu einem privaten Waffenhändler in der Provinz Helmand. Helmand war weit entfernt. Und was hatte ein Waffenhändler in Helmand mit einem falschen deutschen Hubschrauberpiloten zu tun? Holger war die Angelegenheit unheimlich. Am Abend begannen die Trümmer zu rauchen. Ganz von alleine. So mir nichts, dir nichts. Von den Händen eines Gotteskriegers angezündet. In den Trümmern lag für mich auch die Idee der Befreiung Afghanistans- die konnte es nicht geben, solange, wie die Taliban nur durch US-Sicherheitskräfte ersetzt wurden. Ein Platzhalter wurde durch den nächsten getauscht und so weiter. Wer der Pilot war, fand auch sicherlich der Chefermittler des Militärischen Abschirmdienstes in Kabul nicht heraus. Zumindest waren die Jungs am Abend eingetroffen. Ein buntes, unangenehmes Völkchen. Der Major des MAD wirkte wie ein Quizmaster, er stellte ständig Fragen. „Vielleicht soll er es auch nicht herausfinden“, bemerkte Holger und schaufelte Unmengen an Ravioli in sich hinein, die er in der Mikrowelle im Casino von Camp Nikolaus zubereitet hatte. Einige waren geplatzt und sahen aus, wie kleine Männchen nach einem Bombenangriff der Amerikaner. „Die brauchen den Umsatz, um den Krieg führen zu können“, entgegnete ich ihm. Nach dem Essen fraß er die Tabletten regelrecht in sich hinein. Es dauerte noch Wochen, ehe ich herausfand, dass er Antidepressiva schluckte. Eigentlich war er nicht mehr diensttauglich, aber auch das stand auf einem anderen Blatt. Am Morgen darauf fand eine afghanische Patrouille die beiden toten Besatzungsmitglieder aus dem abgestürzten Hubschrauber. Den Verwundungen nach, waren sie vor ihrem Tod gefoltert worden. Es gab gleich einen Verdächtigen, den alle hier King Karzai nannten. Das allerdings klang hier wie ein Schimpfwort. Dieser Mann war zweifellos ein allseits verdächtiges Phantom. Niemand hatte ihn je gesehen, gesprochen, gehört oder ihn leibhaftig zuordnen können. Wobei leibhaftig den Nagel auf den Kopf traf. King Karzai war der Geist aus der Flasche, aus der Büchse der Pandora. Angeblich war er in einem Kölner Vorort aufgewachsen, einmal in Chorweiler, dann im Kölner Osten, bei Dellbrück. Gleich neben einem Restaurant mit rheinischen Spezialitäten. Gerüchte besagten King Karzai sei immer mit der Regionalbahn bis an den Bahnhof Dellbrück gefahren, darüber wusste jeder alles, auch, dass er immer bei Mc Donalds am Barbarossaplatz in Köln zu finden war, einem Joint nie abgeneigt gewesen war, auch gerne betete. Früher, Anfang des Jahrtausends, las er Bravo oder andere Jugendzeitschriften, mehrfach soll er in Messerstechereien wegen Mädchen verwickelt gewesen sein. Auch über seine Mutter, die nach seinem Verschwinden genauso rätselhaft untertauchte, wusste jeder alles und nichts. Seit 2002 war King Karzai einer der treuesten Gefolgsleute Osama bin Ladens. Weder den einen noch den anderen sah man irgendwo. Manchmal wurde er auch Dummy Karzai genannt. King Karzai war eines von vielen Phantomen, die die USA geschaffen hatten, um sich überhaupt einen Gegner vorstellen zu können. Er versteckte sich, der langbärtige und drahtige Asket, der wie bin Laden nur vom Koran lebte. Essen war out, natürlich auch jegliche Form des Vergnügens. Unvermittelt meinte Heiko, als er das letzte Stück Ravioli aus der Dose löffelte: „Ich wette mit dir, eines Tages sitzen Clinton, Rice und Obama zusammen und spielen der Welt ein gigantisches Theater vor dem Fernseher vor. Da wird es computeranimierte Männchen geben. Hubschrauberlandungen, wie damals in der Wüste bei Teheran, als sie die Geiseln aus der Botschaft befreien wollten- dann in schattiger Nacht, ein paar Mauern auf Grünlicht Bildschirmen“, er dachte nach, „bestimmt ein Pool, in dem bin Laden gebadet hat und dann die Erfolgsmeldung, dass der meistgesuchte Terrorist auf der Welt beim gezielten Einsatz der Ledernacken getötet wurde. Die Leiche wird eingeäschert und niemand wird den toten bin Laden je wiedersehen. Schwupp-die Wupp.“ „An Märchen glaube ich nicht mehr, zumindest, seitdem ich in Camp Nikolaus meinen Dienst an der Freiheit versehen darf“, stand ich auf, mir war schlecht. Aber Heiko lag richtig. Heiko wusste, woher auch immer, dass es Millionen an Bord des Helikopters gewesen waren, frisch banderoliertes Geld aus einer Bank in Genf in der Schweiz. Was hatte die Bank in der Schweiz damit zu tun? Ich fühlte mich wie ein Herz Jesu- Kind. Markus, der mir von Anfang an suspekt gewesen war, spielte wieder Ballerspiele auf der Konsole, diesmal schoss er kleine Afghanen. Kinder und Frauen, zählten nur die Hälfte. Tagsüber fuhr er die ferngesteuerten Panzer der Pioniere. Das Gehämmer der virtuellen MGs ging die halbe Nacht, dann schlief auch der Blondschopf Markus ein. Er schrie immer im Schlaf und er rief nach seiner Mutter, seinem Vater. Er war ein armes, sehr verlassenes Schwein. Die meisten im Zug mieden ihn, aber seine Zeit hier war in wenigen Tagen abgelaufen. Als schon der erste Hahn krähte, ein Tier aus Deutschland, das große Probleme mit der Zeitumstellung hatte, schlief auch ich ein. Am Morgen danach war wieder der alte Trott da und es wurde über Tom Neumann geredet, er schien der nächste untragbare Geist in der Truppe zu werden. Im Casino begann das Gras zu wachsen, wenn auch nur sinnbildlich. „Er hat Berichte gefälscht, folgt man diesem Hajo von den Feldjägern, er sollte die Afghanen in einer Form darstellen, die recht ungünstig war, um halt Säuberungen gegen die Taliban durchführen zu können! Angeblich entsteht eine neue militärische Gruppe, die auch mit Syrien und dem Irak verbunden ist. “ Noch verstand ich nicht, was Heiko damit meinte, aber Tage später, nach meinem ersten Patrouillengang, schon. „Die Feldjäger“, er äffte einen der Unteroffiziere nach, die sich wie die Aufpasser aufspielten, mischte ein wenig Hitler hinein, was mich extrem abstieß und der geschundenen Truppe von den Feldjägern Unrecht tat. „Wenn die Schupos ganze Kerle wären, wäre Neumann nicht mehr zurückgekommen und die Weiberärsche wären nicht hier. Die sollen in der Küche Kartoffeln putzen und sonst für unser Wohl sorgen, Truppenbetreuung eben, aber nicht in der kämpfenden Truppe.“ Für ihn waren wir, und daraus machte er, während er zahlreiche Erdnüsse verspeiste, keinen Hehl, keine Soldaten, sondern allenfalls Störenfriede innerhalb des Zuges. Er reduzierte uns Frauen in seinem weiteren schwülstigen Ausführungen auf zwei Brüste mit wachen Augen und extrem kleinem Gehirn. „Stell dir mal vor, wir werden von den Gegnern Hopps genommen und Ihr werdet vergewaltigt, willst du von einem Kameltreiber ein Kind kriegen?“ Er verachtete augenscheinlich die einheimische Bevölkerung zutiefst, ich nahm die Karten auf, bemerkte beiläufig: „Ich habe eine Spritze dafür bekommen.“ „Wenn es man Spritzen gegen die Taliban gebe. Die regieren das Land bald wieder und wir sind umsonst hier gewesen.“ Jörn ging und Heiko winkte ab. „Arschloch!“, der Ton war brutal und dem Umstand des Krieges angemessen. „Sexistisches Nazi Arschloch“, fügte ich hinzu und legte den Stich auf den Tisch vor Heiko, der sein Gesicht verzog. King Karzai, der Anti-Held rückte nochmals in unseren Blick, als wir am Abend neue Nachrichten aus Kabul bekamen. Eines seiner angeblichen Verstecke war durch eine Pioniereinheit aufgefunden worden. Das war genauso unglaubwürdig, wie die Pioniere von „Yellowstone“, die flugs, ich wollte es gar nicht glauben, als Heiko es mir erzählte, die Liegenschaften von „Loops“ übernommen hatten. Der Vizepräsident der Sicherheitsfirma war in seiner gepanzerten Limousine in Kabul, auf einer Ausfallstraße, in die Luft gesprengt worden. Er regnete danach in kleinen Stücken vom dieselgeschwängerten Himmel über der afghanischen Hauptstadt. Als sich der Pulverdampf legte, die Fetzen des 1,90 m Hünen aus Wisconsin aus dem Wrack geholt wurden, übernahm „Yellowstone“ die Geschicke der Firma. Damit waren auch die Unannehmlichkeiten wegen der Maschine, in der die Landsknechte der „Loops“ aufgefunden worden waren, schnell geklärt. „Ich kann und will es nicht glauben“, erklärte Heiko, der wieder Ravioli in sich hineinstopfte, „das Geld und die Edelsteine wurden an „Yellowstone“ zurückgegeben.“

In der Nacht träumte ich schlecht. Was hieß schlecht, so schlecht, dass ich ständig versuchte, vor mir zu fliehen. Immer wieder wurde ich von Alpträumen geplagt, seitdem ich in Camp Nikolaus angekommen war. Diese Bildfolgen waren so real wie die Wirklichkeit, der ich mich zumindest im Schlaf entziehen wollte. Selbst in der Nacht marschierten wir, die Kameraden liefen vor mir wie Schatten, die ich zwar an den Stimmen und den Schritten erkennen konnte, jedoch nicht an den Gesichtern. Mein Traum spielte sich in Deutschland ab- an der Bahnstation in einem Vorort von Bremen, Lesum. Manchmal war ich auf dem Weg zu einer Freundin durch die Tristesse der Bremer Vororte gereist. Verlassene Geschäfte, die in der Flaute der Lehman-Pleite nach und nach zumachten. Mehr und mehr wirkte das Umfeld eines chinesischen Restaurants wie eine Wüste am Wasser. Da lief unser Zug nun durch, ich wunderte mich, wie die Realität uns einholte. Heiko schrie etwas, er stand neben einem ausgebrannten Bus der BSAG. Ich konnte ihn nicht verstehen, vielleicht wollte ich die Wortfetzen auch nicht hören. Jörn war verletzt, er lag mit einem Bauchschuss am Boden, langsam breitete sich eine riesige Blutlache unter ihm aus, bis ein Zucken durch seinen Körper ging. Dann war er tot. Einfach so und nicht anders. Tot. Ich hörte in diesem Moment die Melodie eines Liedes von Donovan „Catch the Wind“, sie verging nach wenigen Takten und verebbte. Das Metall des verkohlten Linienbusses qualmte noch. Der schwarze Rauch zog über die Gleise in ein angrenzendes Wohngebiet, aus dem plötzlich die Schüsse einer Maschinenpistole zu hören waren. Wir gingen hinter einem grauen Stromkasten der Bahn in Deckung. Ein Pick-up rauschte in einiger Entfernung vorbei. Auf der Ladefläche standen bärtige Männer hinter einem schweren Maschinengewehr, das auf das Dach aufgeschweißt worden war. Eine Schwalbe überflog den, mit bunten herbstlichen Blättern, geschmückten Baum zwischen uns und den Guerillas, die augenscheinlich nun auch in Bremen kämpften. Ich spürte den Wind auf meiner Haut, den Geruch der Heimat. Eine Lokomotive rollte schnell vorbei, die Taliban oder wer es auch immer es war, eröffneten das Feuer. Zu meinem größten Erstaunen wurden die Salven erwidert. Querschläger flogen nur wenig über unsere Köpfe. Im nächsten Augenblick, der unsichtbare Feind war verschwunden, fanden wir eine ganze Familie, die augenscheinlich bei lebendigem Leib verbrannt worden war. Schrecklich verkohlte Leichen, deren Gesichter, wie die einer Mischung von Schwein und Insekt wirkten. Ich wagte einen Blick in die weite Ebene des Bremer Umlandes. Ich sah tausende Menschen ziehen. Am Horizont, dort, wo nur noch Salz- und Sandkämme sich abwechselten. Nichts war mehr erhalten, die unbekannten Krieger jagten die Flüchtenden. Einen bewussten Moment wirkte es auf mich wie der sprichwörtliche Exodus. Kurz darauf explodierte eine Handgranate, jemand schrie im letzten Moment: „Gas!“ Es war zu spät. Alle erstickten innerhalb weniger Sekunden, auch ich, die durch den Erstickungstod im Traum wiedererwachte. Ich war schweißgebadet, nach einer Zigarette am Fenster trottete ich langsam zur Dusche. Der mörderischeTraum rettete in dieser Nacht Marco das Leben, seltsam. Er hatte sich schon vor einigen Stunden die Schlagadern aufgeschnitten, langsam blutete er unter der laufenden Dusche aus. Der Nebel verdeckte ihn und der Umstand, dass die Wachtposten Karten spielten, sich am Gameboy langweilten. Rekruten, die sich in ihrer Haut weder in Deutschland noch hier wohl fühlten. Der Sani konnte Marco noch gerade so retten und ich besorgte mir einen Roman aus der Bibliothek. Etwas über die Liebe zwischen einem alternden Bären und einer Maus, die den Bären kurz vor dessen Tod erheiterte. Es wirkte wieder so real, dass ich das Buch nach wenigen Minuten zur Seite legte und in meine eigene Gedankenwelt versank. Irgendwann in den frühen Morgenstunden döste ich ein. Es roch nach Kohlrouladen aus der Dose, dazu nach Pommes.

Am Hindukusch Nichts Neues, cover kasaan media, 2016

Funduk

Wieder in der Realität Afghanistans angekommen, waren wir erneut auf Patrouille. Nichts geschah, als wäre Frieden. Mich wunderte nur, dass kein einziger Mensch, weder Freund noch Feind zu sehen war. An einem verlassenen Funduk hielten wir an, schwärmten aus, wie es das beste Handbuch einem jeden Soldaten zu vermitteln wusste. King Karzai sollte, laut Stab, in der Nähe gewesen sein, war mit einem riesigen Tross von Männern, die keinerlei Spuren irgendwo hinterlassen hatten, unterwegs. Er war durch die Scheiße gezogen, an der wir jetzt standen. Ein afghanischer Scout, der recht ratlos nach Spuren im gefrorenen Matsch des kalten Herbstmorgens suchte, blieb stehen. In diesem Moment schritt ich hinter den massiven Stamm des in der Krone zerschossenen Baumes und wartete ab. Für mich war es so, als würden uns Tausend Augenpaare beobachten. Ich erinnerte mich an meinen Traum aus der Nacht zuvor. Der Feind war nahe, in diesem Augenblick so nah, wie er nur sein konnte, langsam richtete ich die MP auf das Gebüsch hinter den Kameraden. Es blieb noch ruhig. „Sie ziehen sich zurück!“, murmelte Heiko leise, niemand suchte das Gefecht, es waren zu viele. In diesem Moment fragte ich mich, warum die Taliban uns nicht einfach vernichteten. Die Kriegsführung war asynchron. „Das waren Taliban-Dealer, aber niemals das Phantom, unser aller Freund King Karzai“, stellte Heiko fest und trank aus der Wasserflasche Kaffee, den er wohl mit Schnaps vermischt hatte. Auch bei ihm lösten sich die sozialen Strukturen schnell auf. Er setzte sich auf einen Stein, wischte sich die Stirn, die mit Schweiß unter dem Helm benetzt war. „Da haben wir nochmals Glück gehabt.“ Ich schwieg. Von Glück konnte man hier wohl kaum reden. Der Begriff schien aus dem Dari- Wörterbuch gestrichen. Die Angreifer kannten unsere Taktik genau. Wahrscheinlich zogen sie sich deswegen zurück- sie wollten mögliche Angriffe ins Leere laufen lassen. Vielleicht stimmte das Gerücht, dass es eine ganze Anzahl von Kämpfern gab, die zuvor bei der Bundeswehr ausgebildet worden waren, nun mit langen Bärten und ziemlich geländegängigen Eseln durch die Gebirge Afghanistans zogen. Der MAD warnte davor, eine der weiblichen Agentinnen, die an einen Paschtunen herangeschleust worden waren, der sich im Rauschgiftgeschäft breitgemacht hatte, war eher überrascht, dass sie in der Gruppe Deutsch reden konnte, die Taliban die BILD Zeitung und den Playboy lasen. Gekreuzigte Friedenstaube Noch immer suchte der Divisionsstab nach dem Beweis, dass einige Soldaten in Afghanistan einen lebhaften Handel mit Gütern aller Art betrieben. Zunächst aber war eine andere Geschichte vorrangig, die, so lustig sie klang, nicht einer gewissen Tragik entbehrte. Vor einigen Wochen war durch eine Patrouille ein Fahrradfahrer an der Grenze zu Usbekistan angehalten worden. Man wollte zuerst überhaupt nicht glauben, was man gar hörte: Ein Ex-68er, ein Hippie aus irgendeiner Kommune in Berlin, hatte sich in den Kopf gesetzt, ein weiteres Vietnam, im Namen der Deutschen, zu verhindern. So war er wohl im Jahr zuvor, schon im Frühjahr, als die Temperaturen stiegen, von Deutschland mit dem Fahrrad über Russland nach Usbekistan, und von da aus weiter nach Afghanistan, aufgebrochen. In dem unübersichtlichen Grenzgebiet war er wochenlang von Drogenhändlern festgehalten worden, die ihn schließlich gehen ließen. Einer der einheimischen Informanten, die für Stengler arbeiteten, teilte dem entgeisterten Major schon lange, bevor der Fahrradfahrer, dessen Name auch während der Kontrolle an der Straße nach Norden nicht bekannt wurde, mit, dass sich ein deutscher Friedensaktivist zwischen den Fronten bewegte. Stengler hatte dem Vernehmen nach, zwei Tage nur noch rumgebrüllt und die halbe Division auf die Suche nach der unbekannten Friedenstaube entsandt. Daraus entstand die „Operation Vollpfosten“, die zunächst urkomisch, dann aber, mit zunehmender Gewissheit, dass er nicht mehr lebte, nach dem wir suchten, zu einer Last für die gesamte Kompanie wurde. Unser Tagesbefehl lautete: Jedes verfallene Haus an der Strecke von Kilometer 6 bis 9,3 zu durchsuchen, ob sich der Zivilist immer noch in dem mutmaßlichen Kampfgebiet aufhielt. „Wie sollte er das überlebt haben?“, fragte mich Heiko, als wir auf den Mannschaftswagen stiegen. Fünfzehn andere Soldaten, die Erfahrung, zum Teil schon im Kongo vor den Wahlen, einer darunter, der im Kosovo zuvor eingesetzt worden war, gesammelt hatten, saßen mit auf. Ich war Heiko noch eine Antwort schuldig, zuckte jedoch mit den Schultern. Ich hielt mich an meinem Gewehr fest, während sich der Lkw in Bewegung setzte. Hotte, der einzige, den ich zu dem Zeitpunkt namentlich kannte, krächzte, seit Tagen plagte ihn eine eitrige Mandelentzündung. „Derzeit ist die Personaldecke so dünn, dass sie selbst Hotte noch mitnehmen“, lachte der Sani, den ich nicht mochte, weil er sexistische Sprüche machte, und selbst die waren so langweilig und alt, dass sie wahrscheinlich Generationen zuvor, auf irgendwelchen Hauptschulen noch nicht mal mehr in der kleinen Pause erzählt werden konnten. Der MAN nahm eine seitliche Trasse, von der die Vorhut ausging, dass diese minenfrei war. Mehrfach war es in den letzten Wochen zu schweren Explosionen gekommen, als Fahrzeuge der internationalen Streitmacht auf Landminen aus Belgien gefahren waren. Niemand verfügte über eine Erklärung, wie die belgischen Minen nach Afghanistan gekommen waren, den Amerikanern kosteten sie zwei Soldaten, die mit dampfenden und verdrehten, blutigen Leibern wie Müll in einer Tüte auf die Ladefläche eines GMC geladen wurden, der sich dann, wohin auch immer, in Bewegung setzte. Es war Spätsommer, früher Herbst in Afghanistan. Die Fahnen der Gräber im Wind schienen sich zu verfärben, die Blätter zunächst noch nicht. Aber es begann mit Raureif und dann Frost. Ein fauliger Geruch stieg aus zahllosen Erdlöchern, die wir auf dem Weg passierten, hier und da eine Trümmerlandschaft, das Gerippe einer abgestürzten amerikanischen Drohne, die sich danach selbst in die Luft gesprengt hatte. Wie auch immer das möglich gewesen war. Kilometer 6,4 brachte die Erleuchtung. Zumindest, was den unliebsamen Touristen betraf, der zwischen den Linien mit einem handelsüblichen Rennrad aus dem heimischen Supermarkt hin-und her geradelt war. Hinter einer Mauer, die zunächst, auch in ihrer klobigen Größe keinen Sinn auf mich oder andere aus unserem Zug machte, versteckten sich weitere kleine Mauern, darin waren Vierecke aus Stein angelegt worden. „Eine Zisterne!“, meinte Heiko, der diese Konstruktionen schon einmal in einem abendfüllenden Programm eines Nachrichtensenders eines Mystery-Magazins gesehen hatte. Wir sicherten, schwärmten aus, überall flossen kleine Bäche und ein stetes Rinnsal in das Tal, das sich danach teilte. Von einer Wand gingen Steine ab. Helmut sprang zur Seite, gerade im letzten Augenblick, bevor er von einem gewaltigen Quader aus luftiger Höhe getroffen wurde. Eine verfallene Wasserscheide folgte- dort hing der Friedensaktivist, sein Fahrrad war unter das Kreuz genagelt worden. Es war das erste Mal, dass ich einen gekreuzigten Menschen sah. in seinem Gesicht stand das Leid der letzten Stunden, die der Mann gelebt hatte. Der Feldwebel, diesmal Heiner Platzeck, ein sonst ruhiger Mann aus Niedersachsen, blickte zu dem Gekreuzigten auf. Nur leicht schüttelte er mit dem Kopf. „Machen Sie den Zivilisten ab!“, befahl er knapp, dabei verzog er die Mundwinkel und griff sich seltsamerweise an die Hinterpartie seines Helmes. Er fotografierte den Toten ein paar Mal von allen Seiten mit dem Handy. „Wenn ich ehrlich bin, will ich nicht glauben, was ich sehe“, murmelte Heiko und grinste, als er das Päckchen Drum im afghanischen Sand seitlich erblickte. Das Gepäck des Deutschen lag verstreut unter dem Kreuz. Darunter auch eine Haschpfeife und ein Bild einer jungen Frau, wahrscheinlich in den späten 1960ern aufgenommen. Der Wind spielte mit der Fotografie, trieb sie wieder gegen einen vertrockneten Busch, von dem die Aufnahme nach wenigen Sekunden wieder abfiel.

Schon seit Wochen erhärteten sich die Nachrichten, dass eine islamistische Elitegruppe, deren Hauptross sich in die von Unruhe geprägten Länder Arabiens infiltrierte, systematisch Jagd auf Europäer und andere Ausländer machte. Hier präsentierte uns eine verblendete Einheit ein Schauspiel, das seines Gleichen in der bisherigen Besatzungsgeschichte von Camp Nikolaus suchte. Zahlreiche Chronisten gaben sich aus jeder Generation der ankommenden Soldaten für das Schönen der Heldentaten deutscher Soldaten am Hindukusch hin. Der Krieg war der Beginn der neuen Völkerwanderung, das wollte festgehalten werden. Die Hände des Berliner Radfahrers waren fast völlig zerrissen, sein Penis vor dem Tod abgeschnitten worden. Offensichtlich war er mit heißen Zangen, die über einem Feuer zum Glühen gebracht worden waren, lange und ausgiebig gefoltert worden. Der Tod war vor mehr als einer Woche eingetreten. Zahlreiche Raubvögel hatten ganze Stücke aus dem Leib des Toten gerissen. Andere Aasfresser waren nicht in der Lage gewesen in die Höhe, in der der Friedensaktivist aufgehängt worden war, mit ihren Mäulern zu reichen. Der Feldwebel machte wieder einige Fotos aus verschiedenen Perspektiven mit seinem Handy. Sonst sagte er nichts. Der Feldwebel Platzeck machte selbst Meldung über Funk, diese war dürftig und knapp. Wie in einer Prozession wurde danach das Kreuz zu Boden gelegt, die Nägel aus den Händen und den Füßen entfernt. Dabei bewegte sich der Körper plötzlich, zahlreiche Kameraden schreckten zurück. In dem Fäulnisprozess waren Gase entstanden, die den Körper unwillkürlich zu krampfartigen Konvulsionen führten. Es war schaurig. Die Leiche, die erbärmlich stank, wie Tod eben roch, verschwand in einem schwarzen Plastiksack und wurde mit einem gewaltigen Bogen auf die Ladefläche des MAN’s durch vier Kameraden geworfen. Noch suchten wir nach dem Penis, den wir aber nicht mehr fanden. Es hatte etwas vom heimischen Ostern. Über der Schlucht, in der das Kreuz gestanden hatte, breitete sich nach und nach die Abendsonne aus. Der MAN brauchte eine ganze Zeit, um aus dem Tal wieder herauszukommen. Im Augenwinkel beobachtete ich einen einsamen Reiter, der am anderen Ende der Felskette, hoch auf einem Pferd, unserem Treiben durch ein Fernglas zuschaute. Wahrscheinlich war er über unser Entsetzen tief befriedigt, hatte er doch nichts anderes augenscheinlich zu tun. Auch im Camp Nikolaus wieder angekommen, wurden das Kreuz, das neongelbe Fahrrad, und der Leichnam des Friedensaktivisten, samt dem Gepäck, zwei Satteltaschen und einem Rucksack wieder abgeladen. Die Leiche sollte noch am Abend vom Flughafen in Kunduz aus, nach Usbekistan und von da aus nach Deutschland ausgeflogen werden. Samt Fahrrad. Es waren die ersten Tage in einem Land, das Heiko den Mond getauft hatte. Widerwillig stocherte er in seinem Joghurt herum, suchte die einzelnen Früchte und löffelte diese. Eigentlich war er ein Einzelgänger, wie er bei einer Partie „Mensch Ärger Dich Nicht“ erklärte. Aber nach wenigen Sätzen verstummte er, auch er hatte die Leiche des gekreuzigten Mannes fotografiert. Wieder und wieder sah er sich das Bild an. Irgendwann wurde es mir zu blöd, und ich verabschiedete mich ins Bett. Er nickte nur und wünschte mir „Eine gute Nacht!“ Heiko versank in Lethargie, die ich nicht zu deuten verstand-die Waschmaschine lief noch, der Geruch von Lenor erfüllte den gesamten Trakt, in dem wir untergebracht waren. Wer das Gerücht in die Welt setzte, konnte später niemals geklärt werden. Es kursierte, dass die amerikanischen Sondereinheiten den Radler ans Kreuz genagelt hatten. Möglich war alles, jedoch aus welchem Grund? Es war eines dieser Geheimnisse des Krieges, das niemand zu ergründen wusste. Das Gerücht war dennoch in der Welt, und es konnte nur von jemandem stammen, der bei unserer Patrouille dabei gewesen war. Ich tippte, ohne mit der Wimper zu zucken, auf Heiko. Dazu, und dieser Umstand machte ihn noch verdächtiger, gab es noch ein Bild des gekreuzigten Radfahrers in einem Forum im Internet, in dem, wenn auch oberflächlich, Nachrichten aus Afghanistan ausgetauscht wurden. Tage darauf hörte ich von einem Unteroffizier des Divisionsstabs, dass nicht wenige amerikanische Eliteeinheiten in Verdacht hatten, den Berliner, der mittlerweile in der Heimat angekommen war, als Thomas Lange, ein harmloser Kiffer aus dem Bezirk Prenzlauer Berg identifiziert wurde, hingerichtet zu haben. Lange hatte sich, so konnte ich lesen, schon Anfang der 1980er Jahre in der Friedensbewegung sehr engagiert und war nach und nach mit seinen Ideen von einer gleichen und sozialen Gesellschaft aus den einzelnen Arbeitskreisen der neu entstandenen Grünen verdrängt worden. Einen Träumer wollten die machthungrigen Alternativen nicht. Gerade seine Ideen wurden dann später aber von den Eliten der Parteien vertreten, wenn es darum ging, die Seele des Volkes vor der Wahl zu streicheln und auf Stimmenfang zu gehen. Damals, als alles begann, wohnte Lange noch in Westberlin, in Kreuzberg, in einer kleinen Studentenbude und ging seinem Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie nur eher widerwillig nach. Er galt schon in den Tagen als absoluter Sonderling und wurde von den meisten gemieden. In Erscheinung trat er noch einmal bei der Friedenskundgebung 1983 in Bonn. Etwas im Zusammenhang mit seinem Tod stimmte nicht, ständig bekam Major Stengler neue Anfragen von der Staatsanwaltschaft in Berlin, wohin die Leiche zur Beerdigung überführt worden war. Nun lag er auf dem Friedhof in Moabit, dort waren die Gräber günstiger und wahrscheinlich hatte der Magistrat der Stadt ein Sozialbegräbnis bezahlen müssen. Stengler wollte von jedem einzelnen, der bei der Patrouille anwesenden Soldaten wissen, ob einem von uns etwas Sonderbares oder Ungewöhnliches aufgefallen war. Niemand konnte etwas sagen, und außer mir, war den anderen der einsame Reiter am Berg nicht aufgefallen. Damals machte ich einen Fehler, den ich später noch bitterlich bereuen sollte, aber das konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht wissen. Ich war neu im Krieg und musste, so sehr ich auch darauf trainiert war, die Spielregeln erlernen, vorerst reichte es mir, dem ewig mogelnden Heiko, die Mau-Mau Regeln näherzubringen, die er, wie vieles andere, missachtete.

Am Hindukusch Nichts Neues, cover kasaan media, 2016

So gewonnen, so zerronnen

Doch deutete der Verdacht in Richtung einer amerikanischen Eliteeinheit, die sich gerne mit den Tötungsarten der Taliban aus der Affäre zog. Folter, darauf schienen die Amerikaner in Afghanistan spezialisiert zu sein, aber nicht nur die regulären Truppen, sondern auch die, die im Auftrag des Pentagons unterwegs waren, um hinter der Front zu säubern. Der ganze Krieg bekam für mich innerhalb von Tagen einen faden Beigeschmack, der sehr an das Wüten der deutschen Wehrmacht im 2. Weltkrieg in besetzten Gebieten erinnerte. Heiko war derweil damit beschäftigt, der Legende, oder vielmehr, den vielen Legenden eines riesigen Goldschatzes nachzugehen, den angeblich die Sowjets angehäuft hatten, während sie Afghanistan besetzt hielten, und den sie zurücklassen mussten, als sie abzogen. Um diesen Schatz, der auf verschiedenen Wegen transportiert worden war, drehten sich die wildesten Gerüchte, von denen ich je hörte. Einige russische Halbbrüder von Indianer Jones, darunter ein Archäologe, der bei Putins Regierung in Ungnade gefallen war, versuchten sich seit einigen Jahren, gleich, ob im Frieden oder im Krieg, diesen Milliarden schweren Schatz ausfindig zu machen. Hierbei wurde nicht zimperlich mit den zahlreichen Mitstreitern umgegangen. Einige der Abenteurer waren auf dem Weg zu großem Reichtum, den auch eine Schatzkarte versprach, die von filigranen Kinderhänden gezeichnet worden war, an jeder Ecke zu haben war, zu Tode gekommen. Natürlich fiel das nur den Konkurrenten in dem Metier zunächst auf, in einem Land, in dem man mehr Tote als Schatzkarten an sprichwörtlich jeder Ecke finden konnte. Auch Heiko wurde von der Gier erfasst und ich glaubte an die Mär, dass die Taliban sich aus den Einnahmen der Karten finanzierten. Bestimmt reichte es, hier und da, aus Nordkorea neue Waffen zu kaufen. Auf einem Markt wurde ihm eine der Karten, eine der vielen Schatzkarten angeboten und mir kam es schon vor, wie die Geschichte von Long John Silver und der Kneipe, Admiral Benbow, an der britischen Steilküste. Er ließ sich die Karte 30 US-Dollar kosten. Wie viele dieser Dokumente der Verkäufer, ein armer Paschtune, unter die Leute gebracht hatte, wollte ich gar nicht mehr wissen. In der dazu erzählten Geschichte, diese variierte erneut, ging es darum, dass der Transport von Gotteskriegern, 1989, kurz vor der usbekischen Grenze, an einem Magazin abgefangen worden war. Die sowjetischen Truppen wurden aufgerieben und nur drei der Lkw, die Gold und Edelsteine über eine gefährliche Bergpiste transportierten, entkamen. Die Soldaten, die die Transporter für die sowjetische Armee fuhren, kamen allerdings nie mehr zurück. Auch konnte kein Beweis gefunden werden, dass sie jemals wieder die Heimat betreten hatten. So vermuteten die zahllosen Geschichtenerzähler im Umkreis, dass die reiche Beute immer noch in den unübersichtlichen und tiefen Schluchten im afghanisch-usbekischen Grenzgebiet ruhte. Womit das Märchen seinen weiteren Ausgangspunkt fand. Ich fühlte mich bestätigt, dass die Taliban alles auf die Karte Gier setzten und eine unglaubliche Desinformation betrieben, um die eigentlichen Arbeiten und Befehle der Soldaten durch die Suche nach dem Schatz unterbrachen. Geschickter ging es nicht mehr, ich musste schmunzeln, als ich auf dem Markt beobachtete, wie ein Schwede auf Patrouille, die gleiche Karte erwarb. Aber ganze Kompanien, nicht nur bei uns, waren auf die Mär von dem Schatz hereingefallen. Wieder entstand durch ein Verhör, diesmal der Norweger, ein Gerücht, das sich jedoch bewahrheiten sollte, schrecklich bewahrheiten sollte. Einer der Paschtunen, der einer eher gemäßigten Einheit angehörte, berichtete nahe des Marktes über eine Gruppe Männer aus Asien, die in die Berge gefahren waren, zu dem Gegner, wo auch immer dieser den Drohnen und den flächendeckenden Bomberstaffeln der Amerikaner entkommen waren. Seiner Beschreibung nach, waren es Chinesen. Es dauerte keine fünf Minuten, da war einer der ständig mobilen Reserven der US-Armee oder von einer Sicherheitsfirma, in diesem Fall, „Yellowstone“, vor Ort. Zwischen riesigen Säcken Reis, einem geschlachteten Hammel und Gewürzen, einem Viertel Kamel, berichtete der Mann beim wohlduftenden Kaffee von den vier Unbekannten, die unseren Sperren, die etwas weiter nördlich lagen, wohl entkommen waren, oder in Kenntnis dieser, die Verkehrswege, auf welchem Weg auch immer, umfahren hatten. „Asiaten, die Waffen in den Bergen verkaufen“, murmelte Heiko, er lud das Gewehr durch, als er zurück zum Checkpoint, neben einer Sandsackbarrikade kam. Ich dachte das gleiche wie er. Chinesen oder Nordkoreaner. „Wobei die den eigentlichen Schatz heben!“, fügte ich hinzu. Ich wollte es nicht glauben, wie Staubsaugervertreter, deren Kundschaft etwas weiter abseits wohnte, wurden die Bedürfnisse derer gestillt, die nun dringend darauf angewiesen waren. Eine gigantische Maschinerie setzte sich in Bewegung. Es waren Nordkoreaner, denen nachgesagt wurde, dass sie die Waffen aus tieffliegenden Maschinen an Fallschirmen in der Nacht, in der Vergangenheit, abgeworfen hatten. Glücksritter dieser Tage, deren Regierungen wie Aasgeier funktionierten. Die Kim-Sippe in Pjöngjang war mir sowieso nicht geheuer. Von den ominösen Asiaten allerdings, fanden auch die sonst so findigen Amerikaner keine Spur mehr. Es fanden sich, fast der Grenze zu Usbekistan, in einem anderen, weit von unserem Camp entfernten Sektor, jedoch Fallschirme, die aus nordkoreanischer Produktion stammten. Was bewies das? Nichts! Die Amerikaner konnten diese selbst ausgelegt haben, um potentielle Verkäufer abzuschrecken. Der Spuk war schnell vorbei und wir wandten uns den täglichen Dingen des Lebens und Sterbens zu. Oder knabberten an einem Zwieback und lutschten an einer Banane. Tage darauf wurde eine verstümmelte Leiche eines Nordkoreaners in den Hügel etwas mehr als zwei Kilometer entfernt von Camp Nikolaus aufgefunden, in seine Arm-und Beinknochen hatten die Verstümmler Schnitzereien gemacht. Der Mann hieß laut der Tätowierung unter seiner Achsel, Chun, mehr stand dort nicht. Papiere fanden wir nicht. Er sah ganz schlimm aus. Schlimmer, als ich mir Krieg je vorgestellt hatte oder phantasieren konnte. Die Leiche wurde eine Woche danach mit einem Flugzeug nach Peking geflogen, von da aus wohl nach Pjöngjang. Schwund für ein System, das selbst von Mord und Totschlag, wie gewöhnliche Aasgeier, von dem Verkauf von Waffen lebte. Auch die Nordkoreaner waren nicht alleine. In ihrem Anspruch mit allen Geschäften zu machen, die sie noch ausnehmen konnten, wurden sie emsig. Gegen Devisen für den sektenartigen Staat in Asien. Die Amerikaner führten sich unerbittlich in Afghanistan auf. Ich dachte darüber nach, als sie eines der Häuser durchkämmten, in dem der Feind vermutet wurde. Die systematische Razzia fand statt, obwohl nur die vage Vermutung bestand, dass der Feind sich der Fassade harmloser Familien und deren zerschossenen Häuser bediente. Natürlich gab es nicht diesen bösen Afghanen. Den konnte es niemals geben. Vielleicht einen anderen, den wir nicht trafen. In jedem Land gab es gute und böse Menschen, gleichwohl waren für uns rationale Europäer die meisten Geschichten, die wir hörten, Märchen aus Tausend und einer Nacht, was uns die Arbeit natürlich nicht einfacher machte. Für mich wirkten die Frauen und Kinder, die alten Männer eher wie traumatisierte Geschöpfe aus einer anderen Welt, die mir, so verschlossen diese Welt sich gestaltete, vollkommen unverständlich war. Heiko grinste, als ich zur Durchsuchung eines Hauses an die Tür klopfte. Ich schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter. Die Straße war menschenleer. Die meisten Einwohner versteckten sich, sie waren die Kommandos seit Jahrzehnten, mit wechselnden Operateuren gewöhnt. Bevor ich das zweite Mal anklopfen wollte, öffnete eine, in eine blaue Burka gehüllte Frau, die in einer Ehe mit zwei Nebenbuhlerinnen auf die Heimkehr des vermissten Gatten wartete. Es roch nach Kebab, nach gekochtem Reis und einer scharfen Soße, die noch langsam auf dem Holzherd vor sich hin köchelte. Für einen Augenblick vergaß ich den Krieg um mich herum und zog den Topf von der Flamme, bevor die Soße anbrannte. Die Afghanin lächelte hinter ihrem dunkelblauen Schador, während Heiko nach versteckten Kellerräumen unter den feingewebten Teppichen suchte. Ein kleines Mädchen, das hinter dem schwarzen Schleier weinte, Heiko wüst beschimpfte, bis es keine Luft mehr bekam, versteckte sich in der hintersten Ecke, im Vorratskeller. Das einzig Wichtige, was wir fanden, und das befremdete uns sehr, in einem ärmlichen Haushalt, lag ein Flugticket nach Athen und zurück nach Kabul, vor zwei Monaten gebucht, auf einen Ahmet Hailani. Der Name war falsch, den Passagier allerdings hatte es gegeben. Alles andere übernahmen die Amerikaner. Wie immer. Zu diesem Zeitpunkt freilich wusste ich noch nichts davon und Heiko, der die Situation immer mit einer Spirale verglich, wurde von Minute zu Minute aggressiver und verlor sich in den folgenden Gassen, warf jegliche Zivilisation und die Bemühung um diese über Bord. Es fielen Schüsse, Heiko ballerte nur in die Luft, soweit hatte er sich noch unter Kontrolle, wenn jemand Meldung nach dem Vorfall machte, konnte er unehrenhaft entlassen werden, obwohl er seine Stiefel putzte, bis diese mehr glänzten als alle anderen. Die Gassen waren gemauert, erinnerten ein wenig an das antike Rom, die Rundbogendurchgänge, aus deren Mauerwerk es rieselte. Auf der anderen Seite der Stadt wurde geschossen, am Markt ging das Treiben ganz normal weiter. Heiko und ich, zu uns hatte sich noch Manfred gesellt, ein Typ aus Berlin, der vor seiner Bundeswehrzeit nicht so recht gewusst hatte, was er mit seinem Leben anfangen sollte, schoben Wache, kontrollierten jedes Fahrzeug, das an den Markt heranfuhr. Der Geruch frischer Gewürze und von geerntetem und getrocknetem Tee stiegen meine Nase. Von den Honoratioren der Stadt, alte Männer mit langen Bärten wurden wir genau beobachtet. Sie tranken Kaffee, jeder kam mit seiner Kalaschnikow. Der Entwaffnungsbefehl galt nicht für sie, und ich hoffte, dass nicht einer von ihnen in meinem Rücken, hinter der Sandsackbarriere, plötzlich das Feuer eröffnete.

Ein Jeep fuhr heran, ein Kaugummi kauender Amerikaner beschimpfte einen der Afghanen, der unter einem gemauerten Erkervordach die Sinnlosigkeit des Krieges beobachtete. Er nannte sich Sultan, meinte er so ganz nebenbei, als die Militärstreife der Amis hinter der nächsten Ecke verschwunden war- „Als nächstes kommen die Russen wieder!“ Ich dachte an die Worte meines Ausbilders in Deutschland, Major Hoppe, der uns immer davor gewarnt hatte, uns ablenken zu lassen, durch Zivilisten, die plötzlich auf uns zutraten, die Streife in ein Gespräch verwickelten. Aber was war ein Übungs-Camp in der Lüneburger Heide im Vergleich, auf dem Rekruten Afghanen, dazu noch falsch spielten, und die ganze Division eher sich dem „Flaschendrehen“ verschrieben hatte. In der Realität bereiteten Taliban oder andere Terrorgruppen in solchen Momenten gerne Anschläge vor. Eine unglaubliche Spannung lag in der Luft. Nun war nicht jeder, der auf uns zutrat und einfach mit uns reden wollte, weil er niemanden mehr zum Reden hatte, ein Terrorist oder Bombenleger. In diesem Moment spürte ich, wie schwierig die menschliche Abwägung war, sich auf ein freundliches Gespräch in einem Land einzulassen, das in den letzten Jahrzehnten nur durch Gewalt und gegenseitigem Hass regiert wurde. Afghanistan, und das vergaßen die meisten, die sich mit dem Land beruflich beschäftigen mussten, konnte keine gewachsene Demokratie sein. Den Bürgern war nie die Möglichkeit einer freien Gesellschaft eröffnet worden. Die Amerikaner und ihre seltsame Politik der Befreiung aller Völker hatten auch hier versagt. Wenn man Afghanistan und Deutschland verglich, so konnte man auch die Venus und den Jupiter vergleichen. Viele Gemeinsamkeiten gab es nicht. Sultan war Maler, er hatte noch kurz vor dem sowjetischen Abzug, einen seiner Arme verloren. Mit dem anderen, dem linken, zeichnete er. Sein Körper war gertenschlank. Er fragt einfach, ob er uns porträtieren durfte, er träumte eines Tages davon, seine Werke in einem Museum in Kabul auszustellen- Momentaufnahmen, wie er das Leben begriffen hatte, als es zu kompliziert und als es scheinbar Frieden im Krieg war. Er träumte davon, einmal um die Welt zu reisen, verriet er mir und Heiko, der gerade einen verbeulten Toyota kontrollierte. Die Bombe konnte auch unter dem Fahrzeug sein. Der Mann stieg aus, Heiko hielt die Maschinenpistole auf ihn, und auch ich zog die Heckler & Koch hoch, während Manfred unter den Wagen blickte. Nach wenigen Sekunden erhob er sich wieder, nahm seine MP auf, er atmete sichtlich durch und schüttelte dabei den Kopf.

Am Hindukusch Nichts Neues, cover kasaan media, 2016

Melonenbombe

Jedoch die Papiere des ca. 50 Jahre alten Mannes waren nicht in Ordnung, seine dunkelgrünen Augen störten mich. An diesem Afghanen stimmte etwas nicht. Er strich immer wieder nervös mit der rechten Hand über seinen langen grauen Bart, der bis auf die Hälfte der Brust reichte. Er sprach wenig, auch wenn er gefragt wurde, seine Kehle war trocken. Noch einmal durchsuchte Manfred das Fahrzeug. Fast akribisch durchleuchtete der Berliner das Heck, einige Einkäufe, die vor möglichen Hohlkörpern gestaut worden waren. Apfelsinen vor TNT, das wollte selbst ich nicht glauben und ging Manfred zur Hand. Wir fanden auch beim zweiten Mal Durchsuchen nichts. Heiko senkte die Maschinenpistole und gab dem Mann seine Papiere zurück, mit dem Verweis, dass es neue Führerscheine und Personalausweise gab. In Dari wünschte er dann eine gute Fahrt. Irgendetwas irritierte mich an den Mann, nur was, konnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Nach einer Weile fragte Leutnant Hampe, wie wir zurechtkamen, er beobachtete uns und wartete an dem seitlich des Marktes stehenden Dingo. Die größte Falle im Krieg und bei Wachdiensten war das Gefühl der Langeweile, der Monotonie. Plötzlich rollte eine Melone über einen der schmalen Gänge zwischen den Ständen, Menschen schrien in wilder Panik auf, es entstand ein Gedränge, einige Körper fielen über andere. Es konnte eine geschickte Falle sein, die die Taliban zur Ablenkung initialisierten. Ein kleines Mädchen wurde zur Seite gerissen, sie fiel über einen Stapel mit Holz. Zwischen den Mauern der Häuser, die an einer alten Karawanserei endeten, und den Marktplatz umgaben, gellten und hallten die Schreie derer wider, die die nächste Explosion befürchten mussten. Das ganze Volk schien in Panik. Leutnant Hampe blieb wie angewurzelt stehen, für einen Augenblick schlich ein Lächeln über sein Gesicht. Die Melone rollte immer noch, ehe sie an einem Bein eines Markttisches zum Stehen kam. Wie einer der vielen Köpfe, die durch Afghanistans Straßen rollten, wenn wieder einmal eine Explosion diesen oder den Markt erreicht hatte.

Es war nur eine simple Melone, keine Bombe. Es dauerte Stunden, ehe die Zivilisten sich wieder beruhigt hatten. Einige weinten und in diesen Augenblicken wurde mir klar, wie schwierig es sein würde, in Afghanistan für Frieden zu sorgen. Niemand kannte den Frieden mehr oder konnte diesen erklären. Ich verstand mein Soldatendasein durchaus als eine friedensstiftende Maßnahme, der sich die internationale Gemeinschaft verschrieben hatte. In diesem Fall sprachen die Militärs von einem robusten Mandat, was immer sie damit meinten. Wahrscheinlich hatte es etwas mit Geld zu tun, wenn nicht damit, dann mit Macht über Menschen. Die meisten afghanischen Häuser waren durch den jahrelangen Krieg beschädigt, in weiter entlegenen Gebieten, gab es kaum Strom-und Wasserversorgung, wie ich in den darauffolgenden Tagen feststellen durfte.

Am Hindukusch Nichts Neues, cover kasaan media, 2016

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