Titelbild: Beispielbild Genfer See
Der Tod von Uwe Barschel, dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein und aufstrebenden CDU-Politiker, bleibt auch 38 Jahre nach dem 11. Oktober 1987 eines der rätselhaftesten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte, ein Fall, der zwischen politischer Tragödie, persönlichem Absturz und dunkler Verschwörung oszilliert.
Barschel, der mit nur 38 Jahren als der jüngste Chef eine Regierung eines Bundesland übernommen hatte und als charismatischer Hoffnungsträger galt, fand seinen plötzlichen und absolut ungewöhnlichen Abgang in einem Luxushotel in Genf, umgeben von einer Aura des Mysteriums, die bis heute nicht verblasst ist.
Was als vermeintlicher Suizid abgetan wurde, wirft Fragen auf, die von einer Überdosis Medikamente bis hin zu internationalen Intrigen reichen, und genau 38 Jahre später, im Oktober 2025, beleben neue Dokumentenfreigaben und Gedenkreflexionen die Debatte, ohne sie endgültig zu klären.Um den Kontext zu verstehen, muss man in die Wirren des Jahres 1987 eintauchen, als Barschel inmitten der sogenannten Barschel-Affäre oder Waterkantgate stand, einem Skandal, der seine Karriere binnen Wochen zerstörte. Als CDU-Spitzenkandidat bei der Landtagswahl im September 1987 hatte er seinen SPD-Rivalen Björn Engholm mit schmutzigen Tricks diskreditieren wollen – darunter illegale Überwachung, gefälschte Dokumente und eine geplante Schmutzkampagne, die Steuerhinterziehung andeuten sollte. Der Spiegel enthüllte dies einen Tag vor der Wahl, was Barschel in eine ausweglose Lage brachte. Am 18. September gab er jene berüchtigte Pressekonferenz, in der er mit feierlicher Miene und erhobener Hand sein „Ehrenwort“ gab, an den Vorwürfen sei nichts dran – ein Moment, der später als Symbol für politische Heuchelei in die Annalen einging. Doch die Lügen hielten nicht stand; am 2. Oktober trat er zurück, nur um neun Tage später tot aufgefunden zu werden.
Gerade hatte er sich auf eine Urlaubsinsel, Gran Canaria, zurückgezogen, um der Schmach zu entkommen, doch stattdessen reiste er inkognito nach Genf ein, unter falschem Namen, in das Hotel Beau-Rivage, ein Ort der Diskretion für Reiche und Mächtige am Genfersee. Dort, in Zimmer 317, entdeckten zwei Stern-Reporter – die ihm auf der Spur waren – seinen leblosen Körper in der vollen Badewanne, vollständig bekleidet, mit dem Kopf unter Wasser, als hätte er sich in einen letzten, verzweifelten Akt der Reinigung oder des Verschwindens gelegt. Die offizielle Todesursache, wie sie die Genfer Staatsanwaltschaft 1989 feststellte und das Bundeskriminalamt in einem Vermerk vom 19. Oktober 1987 bestätigte, lautet auf Suizid durch eine tödliche Überdosis von Medikamenten. Die Obduktion ergab ein toxikologisches Chaos. Acht Substanzen befanden sich in seinem Blut und Organen, darunter das stark sedierende Lorazepam (Tavor), Diazepam (Valium), Diphenhydramin (ein Antihistaminikum mit einschläfernder Wirkung), Perazin (ein Neuroleptikum), Pyrithyldion (ein Schlafmittel, das in Westdeutschland, der Schweiz oder auf den Kanaren gar nicht erhältlich war, aber in Dänemark und der DDR), und vor allem Cyclobarbital, ein Barbiturat, das in hoher Dosis den Atemstillstand auslöst.
Ergänzt wurde dies durch Spuren von Methyprylon, einem K.-o.-Tropfen. Die These, Barschel habe die Mittel – möglicherweise nach Anleitung der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben – gestaffelt eingenommen, um friedlich einzuschlafen, sich dann in die Wanne gelegt, wo er nach Stunden ertrank, als das Herz und die Lunge versagten. Rechtsmediziner wie Werner Janssen und Klaus Püschel aus Hamburg, die den Leichnam sezierten, schlossen Fremdeinwirkung aus: Keine Abwehrverletzungen, kein Hinweis auf Zwang, und die Mengen seien für einen bewussten Menschen zu groß gewesen, um versehentlich zu sein. Janssen betonte später in Interviews, etwa 2016 in der Zeit, dass ein Hämatom an Barschels Stirn wahrscheinlich selbst zugefügt war, vielleicht durch einen Sturz am Wannenrand, und dass die Szene eher einem geplanten Abschied als einem Mord glich. Die Schweizer Polizei sah darin den „Bilanz-Selbstmord“ eines gebrochenen Mannes, der am nächsten Tag vor einem Untersuchungsausschuss in Kiel hätte aussagen müssen und der Schande nicht standhalten konnte. Doch diese narrative Sauberkeit täuscht, und genau hier beginnt der Nebel, der den Fall seit Jahrzehnten umhüllt und 38 Jahre später noch immer Spekulationen nährt. Schon am Tag der Entdeckung schienen die Umstände absurd. Die Zimmertür war unverschlossen, die Reporter – die Barschel interviewen wollten – stolperten quasi über die Leiche, weil sie von seinem Flug Wind bekommen hatten. Im Zimmer fehlten Verpackungen der Medikamente, eine Rotweinflasche (Beaujolais Le Chat-Botté) war verschwunden, ein Whiskyfläschchen ausgespült und mit Diphenhydramin-Spuren versehen, ein Hemdknopf herausgerissen, Schuhe merkwürdig platziert – einer nass und offen vor der Wanne, mit Rückständen von Dimethylsulfoxid, einer Substanz, die die Haut durchdringt und Drogenabsorption beschleunigt. Ein Handtuch war damit getränkt, und auf dem Badteppich ein möglicher fremder Schuhabdruck. Die Polizeikamera war defekt, die Fotos unscharf; verwertbare Bilder stammen von den Journalisten. Barschels Witwe Freya, mit der er kurz vor dem Tod telefoniert hatte, schilderte ihn als aufgedreht und optimistisch – er plane, in Genf einen Informanten namens „Robert Roloff“ zu treffen, um belastende Materialien zur Affäre zu sichern und seinen Ruf zu rehabilitieren. Warum also Suizid? Und warum Pyrithyldion, das in der DDR oder Dänemark hergestellt wurde, in einem Mann, der keine Suizidtendenz gezeigt hatte?Diese Anomalien weckten Zweifel, die durch unabhängige Analysen immer lauter wurden. Der Zürcher Toxikologe Hans Brandenberger, der 1994 und 1997 die Obduktionsdaten prüfte, kam 2010 in der Welt am Sonntag zu einem schockierenden Fazit: Die Substanzen waren nicht gleichzeitig, sondern zeitversetzt zugeführt worden – zuerst harmlosere Sedativa, die Barschel betäubten, Stunden später das tödliche Cyclobarbital. Das deute auf Fremdeinwirkung hin, vielleicht eine injizierte oder rektal verabreichte Dosis, während er hilflos war. Brandenberger sprach von einer „gestaffelten Vergiftung“, die Suizid vortäuscht, und passte zu Szenarien, in denen Barschel nicht allein starb, sondern Hilfe – oder Hilfe von außen – erhielt. Mordtheorien explodierten.Politische Rivalen in der CDU, die Barschel fallen ließen? Die SPD, die vom Skandal profitierte? Oder gar internationale Akteure? Hier tauchen die dunklen Fäden auf, die den Fall in Spionage-Thriller verwandeln. Barschel hatte Verbindungen zur DDR, reiste dorthin, etwa ins Stasi-Hotel Neptun in Warnemünde, und war in Waffengeschäfte verstrickt. Die Operation „Hannibal“, ein geheimer Plan unter seinem Vorgänger Gerhard Stoltenberg, um iranische Piloten auf norddeutschen Basen auszubilden und Waffen an den Iran zu liefern – im Kontext des Iran-Irak-Kriegs, mit Wissen von Bonn und der CIA, um Ölpreise zu drücken und den Westen zu stärken. Victor Ostrovsky, ein entlassener Mossad-Agent, schrieb 1994 in „Geheimakte Mossad“, dass ein fünfköpfiges Kommando Barschel liquidierte, weil er drohte, diese Deals im Ausschuss offenzulegen – erst betäubt mit drogigem Wein, dann die tödliche Ladung. Der südafrikanische Waffenhändler Dirk Stoffberg nannte 1994 Robert Gates, später CIA-Chef, als Treffenpartner in Genf; der Ex-Iran-Präsident Abolhassan Banisadr sprach von Erpressung an Ahmad Chomeini, Barschels Sohn. Sogar der Agent Werner Mauss war in der Nähe und soll Wanzen im Hotel platziert haben. Diese Fäden weben ein Netz aus Embargos, U-Boot-Affären und Stasi-Kontakten, das Barschel als Bedrohung für Mächte jenseits der Landesgrenzen malte. 38 Jahre später, im Herbst 2025, flackert der Fall wieder auf, getrieben von Freigaben und Reflexionen, die alte Wunden aufreißen, ohne sie zu heilen. Der BND musste kürzlich auf Klage von Journalisten Akten herausgeben – Teile davon enthüllen Treffen Barschels mit dubiosen Figuren wie dem Sohn Khomeinis oder Hinweise auf eine „Long Arm of Canary Islands“-Mafia, doch vieles bleibt geschwärzt, unter Berufung auf 30-jährige Fristen. Ein Bericht von 2024 in der Bild deutet auf BND-Spuren zu diesen Kontakten hin, ohne neue Beweise. Die Lübecker Staatsanwaltschaft stellte 2012 ein Mordverfahren ein, da „erfolgversprechende Ansätze“ fehlten, trotz DNA-Mischspuren auf Barschels Kleidung und einem Handtuch, die auf eine weitere Person hindeuten – ein fremdes Haar verschwand sogar aus dem Beweisverzeichnis. Oberstaatsanwalt Heinrich Wille klagte 2011 in seinem Buch von Behinderungen durch Behörden, während Generalstaatsanwalt Erhard Rex 2007 Mordtheorien als haltlos abtat. In Podcasts und Dokumentationen, wie dem 2020er „Dem Tod auf der Spur“ im Hamburger Abendblatt, betonen Experten wie Püschel die Suizid-Hypothese, sehen aber die Grauzone. Wie bei Kennedy oder Monroe bleibt es ein offenes Geheimnis. Auf Plattformen wie Twitter brodelt die Debatte weiter – Posts verknüpfen Barschels Tod mit Mossad-Verschwörungen, Operation Hannibal und sogar aktuellen Israel-Kritiken, als Warnung vor dem Preis des Wissens. Helmut Kohls alte Worte, in einem 2025 geteilten Video, hallen nach: Er trauere um einen „verlorenen Freund“, doch die Wahrheit? Sie liegt weiter im Genfer Nebel. Am Ende ist Barschels Tod ein Spiegel der Macht. Ein Mann, der zu hoch stieg, zu viel wusste und zu abrupt fiel. Ob Suizid aus Verzweiflung oder Mord aus Kalkül – 38 Jahre danach fließt das Blut der Unklarheit weiter, ein Mahnmal für die Schatten, in denen Politik manchmal tanzt. Die Familie, allen voran Freya Barschel, fordert bis heute Aufklärung, und vielleicht, in einer Zeit wachsender Transparenzforderungen, knackt ein neuer Whistleblower den Code. Bis dahin bleibt es ein Fluss aus Vermutungen, der die deutsche Demokratie speist und mahnt: Manche Tode sterben nicht.
