Titelbild:Shahildar Monument, mw, 2025
Der Schwarze Januar von 1990 stellt einen der dunkelsten und zugleich folgenreichsten Wendepunkte in der jüngeren Geschichte Aserbaidschans dar, ein Ereignis, das tief in das kollektive Gedächtnis der Nation eingemeißelt ist und als Symbol für den unbezwingbaren Freiheitswillen sowie den blutigen Preis der Unabhängigkeit gilt. In den späten 1980er Jahren, inmitten der glasnost- und perestroika-Politik Michail Gorbatschows, die offiziell Liberalisierung und Offenheit versprach, brodelte es in der Sowjetunion wie in einem Kessel unter Druck.
Besonders im Kaukasus, wo ethnische Spannungen seit Jahrzehnten schwärten, kam es zu einer Eskalation, die Aserbaidschan unmittelbar in den Strudel zog. Der Auslöser war der langjährige Konflikt um Bergkarabach, eine von Armeniern bewohnte Enklave innerhalb der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik, die von Armenien als historisch zugehörig beansprucht wurde. Im Herbst 1987 hatten erste Petitionen armenischer Intellektueller aus Bergkarabach die Forderung nach einer Abspaltung von Aserbaidschan und einer Eingliederung in die Armenische SSR laut werden lassen, was in Baku und anderen aserbaidschanischen Städten auf scharfen Widerstand stieß. Diese Spannungen mündeten in Pogrome gegen Armenier in Sumgait im Februar 1988, wo Dutzende Zivilisten ermordet wurden, und setzten eine Kette von Gewaltwellen in Gang, die die sowjetische Zentralmacht vor die Herausforderung stellte, ihre Autorität wiederherzustellen – um jeden Preis.
Zu Beginn des Jahres 1990 erreichte die Krise ihren Höhepunkt.
Sahidlar Xiyabani,mw, 2025
Am 9. Januar beschloss der Oberste Sowjet der Armenischen SSR, Bergkarabach in den armenischen Staatshaushalt einzubeziehen und der lokalen Bevölkerung das Wahlrecht in Armenien zu gewähren, eine Provokation, die in Aserbaidschan als direkte Missachtung sowjetischer und aserbaidschanischer Souveränität wahrgenommen wurde. In Baku, der pulsierenden Hauptstadt mit ihrer Mischung aus aserbaidschanischer Mehrheit und armenischen Minderheiten, entzündete sich daraufhin ein Feuersturm der Empörung. Die neu gegründete Volksfront-Partei Aserbaidschans, eine oppositionelle Bewegung, die sich gegen die korrupte kommunistische Nomenklatur und für nationale Unabhängigkeit einsetzte, nutzte die Stimmung und organisierte Massendemonstrationen auf dem Lenin-Platz – heute Azadlıq-Platz genannt.
Sahidlar Xiyabani, mw, 2025
Tausende Menschen strömten zusammen, skandierten Parolen gegen die sowjetische Herrschaft und forderten den Rücktritt aserbaidschanischer Funktionäre, die als Verräter an der Sache des Volkes galten. Die Rhetorik der Volksfront war durchdrungen von anti-armenischen Ressentiments, die durch die anhaltenden Spannungen um Bergkarabach angeheizt wurden, und mündete rasch in organisierte Gewalt. Ab dem 12. Januar formierte die Partei einen sogenannten Nationalen Verteidigungsausschuss, der in Fabriken, Büros und Wohnvierteln Filialen errichtete, um die Bevölkerung für einen Kampf gegen die „armenische Bedrohung“ zu mobilisieren. Die lokalen Behörden, darunter das Innenministerium mit seinen 12.000 Soldaten, erhielten den ausdrücklichen Befehl, bei den aufkeimenden Ausschreitungen nicht einzugreifen – eine Passivität, die den Boden für das Unheil bereitete.
Was folgte, war ein neuntägiges Pogrom gegen die armenische Minderheit in Baku, das von aserbaidschanischen Nationalisten angeführt wurde und eine Welle der Grausamkeit entfesselte. Von organisierten Gruppen, die Listen mit Namen und Adressen armenischer Familien besaßen, wurden Häuser gestürmt, Geschäfte geplündert und Bewohner in brutaler Weise angegriffen. Schläge, Messerstiche und Brandstiftungen waren die Mittel der Wahl; Berichte von Human Rights Watch zeichnen ein Bild systematischer, keineswegs spontaner Gewalt, die rund 90 Armenier in den Tod riss und Hunderte weiterer verletzte oder vertrieb. Die Straßen Bakus, normalerweise erfüllt vom Trubel des Alltags, verwandelten sich in ein Schlachtfeld des Hasses, wo Nachbarn zu Feinden wurden und die Luft von Rauch und Schreien erfüllt war. Die Sowjetarmee und Einheiten der Kaspischen Flottille, die in der Nähe stationiert waren, verweigerten das Eingreifen und beriefen sich auf fehlende Befehle aus Moskau, was die Eskalation nur begünstigte. Diese Phase des Chaos dauerte bis zum 19. Januar, als Gorbatschow, der den Zerfall seiner Union mit wachsender Verzweiflung beobachtete, das Äußerste befahl. Ein Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets verhängte den Ausnahmezustand über Baku und stellte die Stadt unter direkte militärische Kontrolle.
In der Nacht vom 19. auf den 20. Januar 1990 rückten dann die sowjetischen Truppen mit voller Wucht an – ein Konvoi aus Panzern, gepanzerten Fahrzeugen und über 26.000 Soldaten des Innenministeriums und der Roten Armee, unterstützt von Hubschraubern und Spezialeinheiten, der die Brücken über den Kura-Fluss überquerte und in die schlafende Stadt einmarschierte.
Das Ziel war klar. Die Unabhängigkeitsbewegung der Volksfront zu zerschlagen, die Ordnung wiederherzustellen und die Kontrolle über Aserbaidschan zurückzugewinnen. Doch was als polizeiliche Maßnahme verkauft wurde, entpuppte sich als blutiges Massaker an der Zivilbevölkerung. Soldaten feuerten wahllos in die Menge, rammten Panzer in Barrikaden und eröffneten das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten, die trotz des Verbots auf die Straßen gingen, um gegen die Unterdrückung zu protestieren. Die Salven hallten durch die Nacht, Granatsplitter zerrissen Körper, und der Asphalt färbte sich rot von Blut. Offizielle aserbaidschanische Schätzungen sprechen von 147 Toten, darunter Frauen und Kinder, über 800 Verletzten und Dutzenden, die unter den Ketten der Panzer zermalmt wurden; internationale Beobachter wie Amnesty International und Human Rights Watch bestätigen mindestens 130 Opfer und werfen der Sowjetunion ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Die Stromversorgung wurde abgeschaltet, Telefonleitungen gekappt, und die Stadt in ein dunkles, isoliertes Gefängnis verwandelt, in dem Schreie und Explosionen die einzigen Geräusche waren. Dieses Gemetzel, das in der aserbaidschanischen Geschichtsschreibung als „Mezalim“ – ein Massaker an muslimischer Zivilbevölkerung – bezeichnet wird, war eines der brutalsten Kapitel des sowjetischen Totalitarismus und ein direkter Kontrast zu Gorbatschows Reformversprechen; ironischerweise erhielt er im selben Jahr den Friedensnobelpreis, während die Welt das Leid in Baku rasch vergaß.
Die unmittelbaren Nachwirkungen des Schwarzen Januars waren profund und vielschichtig. Am 21. Januar, nur Stunden nach dem Massaker, demonstrierten Hunderttausende – Schätzungen gehen von bis zu einer Million – in Baku, um die Opfer zu beerdigen und der Sowjetmacht Trotz zu bieten, trotz des Ausnahmezustands und der militärischen Präsenz. Diese Beerdigungsprozessionen, bei denen Särge durch die Straßen getragen wurden, wurden zu einem Akt des kollektiven Widerstands und eines Heldenepos, das den Freiheitswillen des Volkes unzerbrechlich demonstrierte. Heydar Aliyev, der damalige Exilpolitiker und spätere Präsident Aserbaidschans, verurteilte das Massaker in Moskau scharf und forderte eine Bestrafung der Täter, was ihn als Symbol der nationalen Solidarität etablierte. Politisch beschloss der Oberste Sowjet der Aserbaidschanischen SSR am 22. Januar, das Ausnahmezustand-Dekret als „aggressiven Akt“ zu brandmarken, ein Schritt, der die Souveränität der Republik betonte und den Weg zur Unabhängigkeit ebnete. Im März 1991 wurde die Kommunistische Partei Aserbaidschans aufgelöst, und im August 1991 erklärte das Land seine Souveränität – der Schwarze Januar gilt seither als „Wiedergeburt der Republik“, als Katalysator für den Zerfall der Sowjetunion und als Mahnung vor der Unterdrückung nationaler Aspirationen.
Langfristig prägt das Ereignis die aserbaidschanische Identität nachhaltig. Heute, 35 Jahre später, ist der 20. Januar nationaler Trauertag, an dem Gedenkfeiern, Mahnmale und offizielle Zeremonien die Opfer ehren und die Tragödie als Symbol für den Kampf gegen Imperialismus und für territoriale Integrität – insbesondere im Kontext der Befreiung Bergkarabachs 2020 unter Präsident Ilham Aliyev – zelebriert werden. Das aserbaidschanische Parlament stufte die Ereignisse 1994 als „militärische Aggression und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ein, und das Außenministerium fordert bis heute eine internationale gerichtliche Aufarbeitung, um Gerechtigkeit zu schaffen.
Oral-History-Projekte, wie jenes der Humboldt-Universität in Berlin, dokumentieren die traumatischen Erinnerungen von Zeitzeugen, die von persönlichen Verlusten, seelischen Narben und dem langsamen Heilungsprozess berichten, der die Unabhängigkeit zwar brachte, aber keine vollständige „historische Gerechtigkeit“. Der Schwarze Januar ist somit nicht nur eine Narbe der Gewalt, sondern ein lebendiges Vermächtnis des Mutes, das Aserbaidschan lehrt, seine Souveränität mit Wachsamkeit zu wahren, und die Welt an die Zerbrechlichkeit von Freiheit in Zeiten des Umbruchs erinnert.
