Titelbild: Palais Lobkowicz Spekking Lizenz 3.0
Im Herbst 1989 wurde die Deutsche Botschaft in Prag, gelegen im barocken Palais Lobkowicz auf der Prager Kleinseite, Schauplatz eines historischen Dramas, das als entscheidender Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Teilung und Wiedervereinigung gilt. In diesen Tagen im Juli 1989 begann die deutsche Wende. Die Ereignisse, die sich im Spätsommer und Herbst jenes Jahres in der Botschaft abspielten, markierten nicht nur den Anfang vom Ende der DDR, sondern waren auch ein sichtbares Zeichen für das Auseinanderbrechen des Eisernen Vorhangs in Europa.
Tausende DDR-Bürger suchten in dieser Zeit Zuflucht in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, um ihre Ausreise in den Westen zu erzwingen. Diese Massenflucht, die von Mut, Verzweiflung und Hoffnung geprägt war, führte zu einer humanitären Krise, internationalen Verhandlungen und schließlich zu einer Entscheidung, die den Lauf der Geschichte veränderte.
Die Fluchtbewegung begann bereits in den 1980er Jahren, als immer mehr DDR-Bürger versuchten, über Botschaften der Bundesrepublik in Ostblockstaaten wie Ungarn, Polen oder der Tschechoslowakei ihre Ausreise in den Westen zu erreichen. Die Bundesrepublik erkannte die DDR-Staatsbürgerschaft nicht an und betrachtete alle DDR-Bürger als Deutsche, was den Botschaften eine besondere Verantwortung verlieh. In der Tschechoslowakei war die Reise für DDR-Bürger bis Herbst 1989 visafrei möglich, was Prag zu einem bevorzugten Ziel für Ausreisewillige machte. Ab Mitte August 1989 nahm die Zahl der Flüchtlinge, die das Gelände der Deutschen Botschaft in Prag stürmten, dramatisch zu. Viele kletterten über den Zaun des Palais Lobkowicz, da die tschechoslowakischen Behörden die Kontrolle über die Zuflüsse zunehmend verloren. Schon am 19. August lebten etwa 120 Flüchtlinge auf dem Botschaftsgelände, und täglich kamen Dutzende hinzu. Bis Ende September wuchs die Zahl auf über 4000 Menschen an, die in Zelten, auf Treppen, in Gängen und sogar im Torbogen des Palais untergebracht waren.
Die Zustände in der Botschaft verschlechterten sich rapide. Der Garten des Palais, normalerweise ein gepflegter Ort, verwandelte sich durch Regenfälle in eine Schlammwüste. Die hygienischen Bedingungen wurden katastrophal: Es gab nur 22 Toiletten, kaum Duschen, und die Müllberge türmten sich auf. Zeitweise bestand Seuchengefahr, da die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und sanitären Einrichtungen nicht mit der Masse der Flüchtlinge Schritt halten konnte. Botschaftsmitarbeiter und das Deutsche Rote Kreuz bemühten sich, die Lage zu entschärfen, indem sie Zelte aufstellten, Lebensmittel aus Bayern heranschafften und provisorische sanitäre Anlagen installierten. Dennoch war die Situation für die Flüchtlinge, darunter viele Familien mit Kindern, von großer Ungewissheit und Angst geprägt. Viele fürchteten, dass eine Rückkehr in die DDR zu Repressionen oder der Trennung von ihren Familien führen könnte.
Die Flüchtlinge in der Botschaft waren entschlossen, nicht in die DDR zurückzukehren, sondern eine direkte Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. Diese „militante Haltung“, wie sie der damalige Botschafter Hermann Huber beschrieb, unterschied sie von früheren Flüchtlingsgruppen, die oft nach Zusicherung einer „wohlwollenden Prüfung“ ihrer Ausreiseanträge in die DDR zurückgekehrt waren. Die DDR-Führung, unter Druck durch die bevorstehenden Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989, sah sich gezwungen, auf die Krise zu reagieren. Nach langen Verhandlungen, die auf internationalem Parkett, unter anderem bei der UN-Vollversammlung in New York, geführt wurden, kam es zu einem Kompromiss. Die Flüchtlinge durften ausreisen, jedoch sollten die Sonderzüge über DDR-Gebiet fahren, um eine formelle Verfahren zu ermöglichen und die Souveränität der DDR zu wahren.
Am 30. September 1989 trat Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon des Palais Lobkowicz und sprach die berühmten Worte: „Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ Der Rest des Satzes ging im tosenden Jubel der etwa 4000 Flüchtlinge unter. Diese Ankündigung, dass ihre Ausreise in die Bundesrepublik möglich geworden war, markierte einen emotionalen Höhepunkt und einen historischen Moment. Bereits am 1. Oktober 1989 setzten sich die ersten von insgesamt 14 Sonderzügen in Bewegung, die etwa 17.000 Flüchtlinge von Prag über Dresden und Karl-Marx-Stadt nach Hof in Bayern brachten. Die Fahrten waren nicht ohne Risiko. Viele Flüchtlinge befürchteten, dass die DDR-Behörden sie unterwegs aus den Zügen holen könnten. Doch die Züge, begleitet von Mitarbeitern des Auswärtigen Amts, erreichten sicher ihr Ziel.
Nach der ersten Ausreisewelle füllte sich die Botschaft erneut. Anfang Oktober 1989 waren wieder über 5000 Menschen auf dem Gelände, weitere 2000 warteten draußen. Eine zweite Ausreisewelle wurde organisiert, doch die DDR führte kurz darauf eine Visumpflicht für Reisen in die Tschechoslowakei ein, um den Flüchtlingsstrom einzudämmen. Dennoch hob die Tschechoslowakei am 3. November 1989 ihre Grenzsperren für DDR-Bürger auf, was eine direkte Ausreise in die Bundesrepublik ermöglichte. Täglich reisten nun Tausende mit Zügen nach Prag, wo das Botschaftspersonal am Bahnhof Unterstützung für die Weiterreise leistete. Dieser Druck führte letztlich dazu, dass die DDR-Führung am 9. November 1989 die direkte Ausreise erlaubte, was den Fall der Berliner Mauer und die Reisefreiheit nach sich zog. Die Ereignisse in Prag waren somit ein entscheidender Katalysator für die Friedliche Revolution und die Deutsche Wiedervereinigung.
Die Botschaftsflucht hinterließ bleibende Spuren. Eine Gedenktafel am Balkon des Palais Lobkowicz und die Skulptur „Quo Vadis“ von David Černý, die einen auf Beinen laufenden Trabant darstellt, erinnern an die Tausenden, die ihren Weg in die Freiheit fanden. Die verlassenen Autos der Flüchtlinge, vor allem Trabants, wurden von der Tschechoslowakei in die DDR zurückgeführt, da sie anders als Ungarn keine Weitergabe der Fahrzeuge an die Flüchtlinge erlaubte. Die Ereignisse von 1989 wurden in Dokumentationen, Filmen wie „Prager Botschaft“ (2007) und Ausstellungen wie „Der Weg ist frei! Der deutsche Exodus 1989“ festgehalten. Zeitzeugen wie Peter-Christian Bürger, der als „Lagerleiter“ in der Botschaft agierte, berichten von der Mischung aus Angst, Hoffnung und Solidarität, die diese Zeit prägte.
Die Deutsche Botschaft in Prag wurde 1989 zu einem Symbol für den Mut der DDR-Bürger und die Unaufhaltsamkeit des Strebens nach Freiheit. Die dramatischen Wochen im Herbst 1989 zeigten, wie individuelle Entschlossenheit und internationale Diplomatie zusammenwirken können, um historische Veränderungen herbeizuführen. Die Ereignisse trugen maßgeblich zur Auflösung der SED-Herrschaft und zum Fall des Eisernen Vorhangs bei, und sie bleiben ein bewegendes Kapitel in der Geschichte der deutschen Einheit.
