Die Proteste entzündeten sich unmittelbar nach Bayrous Rücktritt und wurden durch die Bürgerinitiative „Bloquons tout“ – „Blockiert alles“ – angefacht, die sich spontan in sozialen Netzwerken und auf Plattformen wie Telegram formierte. Ohne zentrale Gewerkschaftsleitung, aber mit breiter Unterstützung von Verbänden wie der CGT, Force Ouvrière und der SNCTA der Fluglotsen, riefen Demonstranten zu einer totalen Lahmlegung des öffentlichen Lebens auf. Am 10. September, nur zwei Tage nach dem Regierungssturz, kam es landesweit zu massiven Blockaden: In Paris, Marseille, Lyon, Toulouse und Straßburg sperrten Hunderte von Aktivisten Autobahnen, Bahnhöfe und Flughäfen. Die A35 bei Straßburg wurde von Bauern und Arbeitern blockiert, während in der Hauptstadt Tausende vor dem Gare du Nord zusammenkamen, um Züge und Metrolinien zu behindern. Die SNCF-Bahn und die Pariser RATP-U-Bahn meldeten massive Störungen, mit Verspätungen von bis zu mehreren Stunden und zahlreichen Ausfällen; Flughäfen wie Orly und Charles-de-Gaulle warnten vor Flugstreichungen, obwohl die Lotsenstreiks letztlich auf Oktober verschoben wurden. Insgesamt nahmen schätzungsweise 200.000 bis 250.000 Menschen teil, die nicht nur gegen die Sparpläne, sondern auch gegen Macrons „Präsidentenmonarchie“ und die wachsende Armut demonstrierten – eine Armut, die durch steigende Lebenshaltungskosten und Lohnstillstand Millionen von Franzosen trifft, während Superreiche Steuervorteile genießen.
Doch die friedlichen Aufrufe mündeten rasch in Gewalt, die das Bild der Ereignisse prägte und an die chaotischen Szenen vergangener Proteste erinnerte. In Paris eskalierte die Lage bereits am Vormittag des 10. September. Linksradikale Gruppen warfen mit Steinen und Molotowcocktails auf Polizeikräfte, die mit Tränengas und Schlagstöcken reagierten. Barrikaden aus Autoreifen und Müllcontainern loderten in den Straßen der Banlieues, und es kam zu Straßenschlachten um die Place de la République und die Bastille. Die Polizei, mit 80.000 Beamten und Gendarmen im Einsatz, sprach von „organisierter Gewalt“ und nahm landesweit über 470 Personen fest – darunter 171 allein in Paris –, darunter viele wegen Sachbeschädigung und Widerstands. Verletzte Polizisten und Demonstranten mussten behandelt werden; in Marseille und Lyon berichteten Zeugen von geplünderten Geschäften und brennenden Fahrzeugen, während ein großes Einkaufszentrum in der Hauptstadt schließen musste. Die Innenministerium unter dem noch amtierenden Bruno Retailleau warnte explizit vor „nicht tolerierter Gewalt“ und mobilisierte Spezialeinheiten, um Blockaden zu räumen. Diese Härte löste Vorwürfe von Polizeigewalt aus, darunter übermäßigen Einsatz von Gummigeschossen, die zu schweren Verletzungen führten. Die Proteste, die von Bauernverbänden über Lehrer und Krankenschwestern bis hin zu radikalen Umweltaktivisten reichten, wurden so zu einem Symbol für die tiefe Spaltung Frankreichs. Einerseits ein Aufschrei der „kleinen Leute“ gegen eine Elite, die sie als abgehoben empfindet, andererseits ein Nährboden für Extremisten, die die Unruhen nutzen, um Chaos zu säen.
Macron reagierte mit der raschen Ernennung von Sébastien Lecornu, einem Hardliner und Verteidigungsminister mit russophoben Positionen, zum neuen Premierminister, was die Demonstranten nur weiter aufbrachte. Lecornu, der am 11. September vereidigt wurde, versprach Verhandlungen mit den Sozialisten, scheiterte jedoch an einem Kompromiss über den Haushalt, da die Linke den Sparkurs als „Sozialabbau“ brandmarkte. Die Ratingagentur Fitch reagierte prompt, indem sie Frankreichs Kreditrating auf A+ herabstufte – die teuerste Kreditaufnahme seit Jahren –, was die wirtschaftliche Lage weiter verschärfte und Investoren verunsicherte. Die Proteste des 10. September waren nur der Auftakt. Für den 18. September, den heutigen Tag, haben die Gewerkschaften zu einem „schwarzen Tag“ aufgerufen, einem interprofessionellen Generalstreik, der Verkehr, Bildung, Gesundheit und Energie lahmlegen soll. Experten rechnen mit bis zu 800.000 Teilnehmern, erneut unter massivem Polizeischutz, und warnen vor einer Eskalation, die das Land in eine Fiskalparalyse stürzen könnte. In Paris, wo die RATP und SNCF zu massiven Ausfällen aufrufen, könnten Blockaden die Stadt lahmlegen, während in Provinzstädten wie Nantes oder Montpellier weitere Zusammenstöße drohen.
Diese Ereignisse offenbaren die Zerbrechlichkeit der Fünften Republik. Macrons Versprechen von Stabilität wirken hohl, während die Straße – traditionell Frankreichs ultimative politische Arena – erneut die Agenda diktiert. Die Unruhen spiegeln nicht nur nationale Frustration wider, sondern ein europäisches Phänomen. steigende Ungleichheit, Vertrauensverlust in Institutionen und der Druck durch globale Krisen. Ob Lecornu den Haushalt durchbringt oder ob die Proteste zu einer neuen Regierungskrise führen, bleibt offen, doch eines ist klar. Frankreich, das Land der Revolutionen, beweist erneut, dass seine Bürger nicht untätig leiden, sondern handeln – oft mit Feuer und Furor. Die nächsten Stunden und Tage werden entscheidend sein, um zu sehen, ob der heutige Streik zu einem Wendepunkt wird oder ob die Gewaltspiralen sich weiterdrehen.
