Titelbild Tatort Kiesewetter Theresienwiese Heilbronn, Schmelzle, Lizenz 3.0
25 Jahre nach dem ersten Mord des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) am 9. September 2000, als der Blumenhändler Enver Şimşek in Nürnberg von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erschossen wurde, bleiben zentrale Fragen zur rechtsextremen Terrorgruppe und ihren Hintermännern ungeklärt, während die Rolle des Verfassungsschutzes weiterhin heftige Kontroversen auslöst. Der NSU, bestehend aus dem Kerntrio Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe, verübte zwischen 2000 und 2007 neun Morde an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund sowie den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter, dazu mehrere Bombenanschläge und Banküberfälle. Nach dem Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt 2011 in Eisenach und der Selbststellung Zschäpes, die 2018 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, zeigte der Münchner NSU-Prozess (2013–2018) zwar Verbindungen zu einem Unterstützernetzwerk, doch die Identität und das Ausmaß der Hintermänner bleiben bis heute im Dunkeln.
Der Prozess brachte vier Unterstützer – Ralf Wohlleben, Carsten Schultze, André Eminger und Holger Gerlach – mit Haftstrafen zwischen zweieinhalb und zehn Jahren ans Licht, doch die Ermittlungen konnten nicht klären, wie tief das Netzwerk tatsächlich reichte. Zeugen und Opferangehörige wie Semiya Şimşek, die Tochter des ersten Opfers, sind überzeugt, dass an den Tatorten weitere Helfer beteiligt waren, die nie identifiziert oder verfolgt wurden. Die Auswahl der Opfer wirft ebenfalls Rätsel auf: Warum wurden gerade diese Personen gezielt ermordet? Es gibt keine Beweise für persönliche Verbindungen zwischen den Opfern und dem NSU, was Spekulationen über lokale Informanten oder gezielte Aufträge nährt, die jedoch unbewiesen bleiben. Die Ermittlungen fokussierten sich stark auf das Kerntrio, während mögliche Verbindungen zu anderen rechtsextremen Gruppen wie dem Thüringer Heimatschutz oder internationalen Netzwerken wie Blood & Honour nur oberflächlich untersucht wurden. Experten wie Heike Kleffner vom Bundesverband der Beratungsstellen für Opfer rechtsextremer Gewalt betonen, dass das wahre Ausmaß des Unterstützernetzes nie vollständig aufgeklärt wurde, was den Eindruck verstärkt, dass die Behörden entweder nicht in der Lage oder nicht willens waren, tiefer zu graben.
Die Rolle des Verfassungsschutzes ist ein besonders brisanter und bis heute ungeklärter Aspekt des NSU-Komplexes. Schon früh geriet der Inlandsgeheimdienst in die Kritik, weil zahlreiche V-Leute, also Informanten, in der rechtsextremen Szene aktiv waren, ohne dass dies die Mordserie verhinderte. Besonders auffällig ist der Fall Andreas Temme, ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, der sich zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat 2006 im Internetcafé in Kassel befand, aber behauptete, nichts bemerkt zu haben. Seine Aussagen wurden als unglaubwürdig eingestuft, doch er wurde nicht strafrechtlich belangt. Hinzu kommt die systematische Vernichtung von Akten durch den Verfassungsschutz kurz nach dem Auffliegen des NSU 2011, etwa zu V-Leuten im Umfeld des Thüringer Heimatschutzes, was den Verdacht von Vertuschung oder gar aktiver Behinderung der Ermittlungen nährte. Zahlreiche Akten bleiben bis heute unter Verschluss, was die Arbeit von Untersuchungsausschüssen und Journalisten erschwert. Die Frage, ob der Verfassungsschutz durch seine V-Leute indirekt in die Aktivitäten des NSU verstrickt war oder durch mangelnde Koordination und Kommunikation die Terrorgruppe unbehelligt agieren ließ, konnte trotz mehrerer Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Landesebene nicht abschließend geklärt werden. Die Ausschüsse deckten zwar eklatante Versäumnisse auf, wie die jahrelange Fehlannahme, die Morde seien im kriminellen Milieu zu suchen (sogenannte „Döner-Morde“), und die Ignoranz gegenüber rechtsextremen Motiven, doch konkrete Beweise für eine aktive Verwicklung des Verfassungsschutzes fehlen.
Ein weiteres ungeklärtes Element ist die Finanzierung und Logistik des NSU. Das Trio lebte über ein Jahrzehnt im Untergrund, ohne dass klar ist, wie es sich ohne nennenswerte Einkünfte finanziert hat. Die Banküberfälle deckten nur einen Teil der Kosten, und es gibt Hinweise, dass Unterstützer wie Wohlleben Waffen und falsche Papiere organisierten. Doch wie groß das Netzwerk war, das dem NSU logistische und finanzielle Hilfe leistete, bleibt spekulativ. Auch die Frage, warum die Behörden trotz Hinweisen auf die rechtsextreme Szene so lange untätig blieben, ist nicht vollständig beantwortet. Die Ermittlungen waren von Vorurteilen und institutionellem Versagen geprägt, etwa durch die Fokussierung auf die Opferfamilien als vermeintliche Täter im kriminellen Milieu, was die Aufklärung verzögerte und Angehörige zusätzlich traumatisierte.
Die Nachwirkungen des NSU-Komplexes sind bis heute spürbar. Gesetzesänderungen, wie die Pflicht, rassistische Motive bei Straftaten zu prüfen, wurden eingeführt, doch laut Experten wie Kleffner werden sie in der Praxis oft nicht konsequent umgesetzt. Die anhaltende Bedrohung durch rechtsextremen Terror, wie die Anschläge in Hanau 2020 oder Halle 2019, zeigt, dass die Lehren aus dem NSU-Skandal nicht ausreichend gezogen wurden. Die mangelnde Aufklärung über die Hintermänner, die Rolle des Verfassungsschutzes und die genauen Abläufe der Mordserie hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack. Für Opferangehörige wie Gamze Kubaşık, deren Vater 2006 ermordet wurde, bleibt die Frage offen, ob die volle Wahrheit je ans Licht kommt. Der NSU-Komplex ist damit nicht nur ein Fall von rechtsextremem Terror, sondern auch ein Mahnmal für die Schwächen deutscher Sicherheitsbehörden und die Notwendigkeit einer konsequenteren Auseinandersetzung mit rechtsextremen Strukturen.
