Titelbild: Peter Koart, Lizenz 3.0
Am 6. Juli 1967 ereignete sich in Langenweddingen, einem kleinen Ort in der Nähe von Magdeburg in der damaligen DDR, die schwerste Zugkatastrophe in der Geschichte des Landes.
Es war ein warmer Sommertag, die Sonne schien, und die Sommerferien hatten gerade begonnen. Viele Kinder und Familien freuten sich auf unbeschwerte Tage, viele davon auf dem Weg in Ferienlager. Der Personenzug P 852, ein Doppelstockzug der Deutschen Reichsbahn, startete gegen 8 Uhr morgens vom Magdeburger Hauptbahnhof in Richtung Thale im Harz.
An Bord befanden sich etwa 500 Reisende, darunter zahlreiche Kinder, die aufgeregt ihren Ferien entgegenfieberten. Der Zug fuhr mit hoher Geschwindigkeit, da in Langenweddingen kein Halt geplant war. Gleichzeitig stand an einem beschrankten Bahnübergang in der Nähe des Bahnhofs ein Tanklastwagen der VEB Minol, beladen mit 15.000 Litern Leichtbenzin. Was dann geschah, sollte sich als eine der verheerendsten Tragödien in die deutsche Eisenbahngeschichte einbrennen.
Die Katastrophe nahm ihren Anfang durch eine verhängnisvolle Verkettung von technischen und menschlichen Versäumnissen. Über dem Bahnübergang verlief ein Telefonkabel der Deutschen Post, das aufgrund der sommerlichen Hitze stark durchhing. Bereits seit der Installation einer neuen Schrankenanlage im Januar 1966, nach einer Beschädigung durch einen Autobus, gab es wiederholt Probleme mit diesem Kabel, das sich in den Schrankenbäumen verfing. Sowohl die Deutsche Post als auch die Deutsche Reichsbahn waren sich dieses Problems bewusst, doch es wurde als Provisorium toleriert, da Personal- und Materialmangel in der DDR die Behebung solcher Mängel oft verzögerten.
An jenem Morgen versuchte der Fahrdienstleiter und Schrankenwärter Robert B., die Schranken für den herannahenden Zug zu schließen. Doch die südöstliche Schranke verfing sich erneut in dem Kabel und ließ sich nur zu einem Drittel senken. Durch wiederholtes Hoch- und Runterkurbeln versuchte er, die Schranke zu befreien, doch es gelang nicht. In der Zwischenzeit näherte sich der Zug mit etwa 85 km/h dem Bahnübergang, während das Einfahrtsignal auf „Fahrt frei“ stand, da der Fahrdienstleiter versäumte, das Signal zurückzunehmen.
Für den Fahrer des Tanklastwagens signalisierten die teilweise geöffneten Schranken einen freien Übergang. Er setzte seinen Lkw in Bewegung, um die Gleise zu überqueren. Der Lokführer des Zuges erkannte die Gefahr zu spät und leitete eine Notbremsung ein, doch der Aufprall war unvermeidlich. Der Zug erfasste den Tanklastwagen, dessen Tank durch den Aufprall aufgerissen wurde. Tausende Liter Benzin ergossen sich über die vorderen Waggons und das Bahnhofsgelände, vermutlich durch austretenden Dampf aus der beschädigten Dampflokomotive entzündet. Es kam zu einer gewaltigen Explosion, gefolgt von einem Feuerball, der die ersten beiden Doppelstockwagen und Teile des Bahnhofs in ein Flammenmeer verwandelte. Die Hitze war so intensiv, dass sie Temperaturen von bis zu 1.000 Grad erreichte. Viele Passagiere, vor allem in den vorderen Waggons, hatten keine Chance zu entkommen. Besonders tragisch war, dass unter den Opfern 44 Kinder waren, die auf dem Weg in ein Betriebsferienlager des Baustoffwerks Magdeburg waren.
Die Szenen am Unglücksort waren chaotisch und erschütternd. Augenzeugen wie ein Feuerwehrmann beschrieben die Panik und das unvorstellbare Ausmaß der Katastrophe. Die Flammen loderten meterhoch, und die Schreie der Eingeschlossenen hallten durch die Luft. Freiwillige Feuerwehrleute, der zufällig in der Nähe war, eilten herbei, doch die Flammen waren kaum zu bändigen.
Bereits vor Eintreffen der Rettungskräfte brachten Anwohner und Autofahrer Verletzte in Krankenhäuser in Bahrendorf und Magdeburg. In der Medizinischen Akademie Magdeburg wurden Operationen abgebrochen, um Platz für die zahlreichen Verletzten zu schaffen. Ein Überlebender berichtete später, wie er instinktiv aus einem der hinteren Waggons sprang, um dem Inferno zu entkommen. Er rannte zurück, öffnete eine Waggontür und rettete eine Mutter mit ihrem Kind, doch viele andere blieben im Schock erstarrt und konnten sich nicht retten.
Die offizielle Zahl der Todesopfer belief sich auf 94, doch einige Quellen sprechen von weiteren Opfern, die später ihren Verletzungen erlagen. Die Tragödie erschütterte die DDR und hinterließ tiefe Narben in der Bevölkerung. Gedenkfeiern und Schweigeminuten wurden landesweit abgehalten, und die Namen der Opfer wurden in Betrieben verlesen.
Die Ermittlungen der Kriminal- und Transportpolizei sowie der Staatssicherheit fokussierten schnell auf den Fahrdienstleiter Robert B. und den Schrankenwärter, die für das Unglück verantwortlich gemacht wurden. Im August 1967 begann ein Prozess, in dem beide Angeklagte ihre Schuld einräumten.
Sie wurden zu jeweils fünf Jahren Haft verurteilt, die Höchststrafe. Robert B. nahm sich später in der Haft das Leben. Doch die Ermittlungen zeigten auch systemische Mängel auf, die die DDR-Führung zu verschleiern suchte. Das durchhängende Telefonkabel, die marode Infrastruktur und das fehlende Krisenmanagement waren bezeichnend für die Herausforderungen im DDR-Verkehrswesen.
Die Katastrophe führte zu weitreichenden Konsequenzen. Bereits sechs Monate später, am 1. März 1968, trat eine neue Transportordnung für gefährliche Güter (TOG) in Kraft. Diese schrieb unter anderem längere Schließzeiten für Bahnschranken vor, verpflichtete Busse und Gefahrguttransporter, auch bei geöffneten Schranken anzuhalten, und führte strengere Vorschriften für das Schließen von Schranken ein. Jeder Fall einer offen gebliebenen Schranke wurde fortan als Zuggefährdung geahndet. Die Sicherheitsmaßnahmen an Bahnübergängen wurden überprüft und verbessert, und Schulungen für Bahnpersonal wurden intensiviert, um ähnliche Tragödien zu verhindern.
Quellen BStU, MDR, Wikipedia
