Titelbild Hofmann
Konrad Adenauers Besuch in Moskau im September 1955 war ein historisches Ereignis und gilt als eine der bedeutendsten außenpolitischen Aktionen des ersten Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland.
Die Reise, die vom 8. bis 14. September stattfand, wurde auf Einladung der sowjetischen Regierung unternommen, die am 7. Juni 1955 überraschend eine diplomatische Note an Bonn übermittelt hatte. Ziel der Sowjetunion war die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik, während Adenauer vor allem die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten aus sowjetischer Haft erreichen wollte.
Die Reise fiel in eine Zeit kurz nach dem Inkrafttreten der Pariser Verträge im Mai 1955, die der Bundesrepublik die Souveränität und den Beitritt zur NATO brachten. Die Sowjetunion, die diesen Schritt kritisch betrachtete, wollte mit der Einladung möglicherweise Spannungen im westlichen Bündnis schüren und gleichzeitig die Teilung Deutschlands als Status quo zementieren. Adenauer stand unter großem innenpolitischem Druck, da die deutsche Öffentlichkeit Fortschritte in der Kriegsgefangenenfrage und der Wiedervereinigung erwartete. Er selbst verfolgte jedoch eine pragmatische Linie: Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion erschien ihm unvermeidlich, und er sah darin eine Chance, direkte Verhandlungen über deutsche Interessen zu führen.é
Adenauer reiste mit einer großen Delegation, darunter Außenminister Heinrich von Brentano sowie Vertreter wie Carlo Schmid, Kurt Georg Kiesinger und Hans Globke. Die Verhandlungen fanden unter der sowjetischen Führung statt, angeführt von Ministerpräsident Nikolai Bulganin, Parteichef Nikita Chruschtschow und Außenminister Wjatscheslaw Molotow.Die Gespräche, die vom 9. bis 13. September im Kreml stattfanden, waren zäh und standen mehrfach vor dem Scheitern. Die Sowjetunion bezeichnete die verbliebenen deutschen Gefangenen als „Kriegsverbrecher“, während Adenauer auf ihre Freilassung bestand.
Als Druckmittel drohte er mit der vorzeitigen Abreise der Delegation – ein Bluff, den er sich angesichts der hohen Erwartungen in Deutschland kaum leisten konnte. Schließlich kam es zu einer Einigung: Die Sowjetunion stimmte der Freilassung von 9.626 Kriegsgefangenen und einer größeren Zahl von Zivilinternierten zu, im Gegenzug willigte Adenauer in die Aufnahme diplomatischer Beziehungen ein. Diese Zusage erfolgte mündlich, eine schriftliche Fixierung wurde von den Sowjets abgelehnt. Zusätzlich übergab die deutsche Seite einen Brief, in dem der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik und ein Rechtsvorbehalt zur deutschen Ostgrenze betont wurden, um außenpolitischen Schaden zu begrenzen.Reaktionen und Bedeutung.
Die Rückkehr der Kriegsgefangenen begann im Oktober 1955 und war bis Januar 1956 abgeschlossen. Insgesamt kehrten etwa 10.000 Menschen zurück, darunter auch politische Häftlinge aus der sowjetischen Besatzungszone. In der deutschen Öffentlichkeit wurde Adenauer dafür gefeiert: Bei seiner Ankunft am 14. September 1955 auf dem Flughafen Köln-Bonn wurde er von jubelnden Menschen empfangen, eine ältere Frau küsste ihm gar die Hände. Meinungsumfragen zeigten später, dass viele Deutsche die Heimkehr der Gefangenen als seine größte Leistung ansahen – 1967 nannten 75 % dies seine bedeutendste Tat. Der Erfolg festigte Adenauers Popularität und trug zur absoluten Mehrheit der CDU/CSU bei der Bundestagswahl 1957 bei.Kritisch betrachtet zeigt sich jedoch, dass die Sowjetunion die Freilassung der Gefangenen bereits vor Adenauers Reise beschlossen hatte, wie interne Dokumente nahelegen. Die Verhandlungen waren also auch ein taktisches Spiel, bei dem Moskau die Entlassung als Zugeständnis präsentierte, um die diplomatischen Beziehungen durchzusetzen. Zudem bedeutete die Anerkennung der Sowjetunion durch Bonn faktisch eine Bestätigung der deutschen Teilung, was Adenauer öffentlich nicht zugeben konnte.
Adenauers Moskaureise war ein Balanceakt zwischen innenpolitischem Druck, außenpolitischem Pragmatismus und symbolischer Bedeutung. Sie markierte die erste eigenständige außenpolitische Handlung der jungen Bundesrepublik und prägte das Bild des Kanzlers nachhaltig. Gleichzeitig verdeutlicht sie die Grenzen seiner Politik: Die Wiedervereinigung blieb unerreichbar, und der Preis für die Heimkehrer war die stillschweigende Akzeptanz des Status quo. Dennoch bleibt der Besuch ein Meilenstein in der deutsch-sowjetischen Geschichte und ein Beispiel für Adenauers Verhandlungsgeschick.