Im Frühjahr 1945 stand Deutschland vor der endgültigen Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Die Rote Armee rückte unaufhaltsam vor, und die Stadt Demmin, strategisch gelegen im Dreistromland von Peene, Tollense und Trebel, wurde zum Ziel der 65. Armee der Zweiten Weißrussischen Front. Bereits seit Januar 1945 strömten Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen sowie Hinterpommern in die Stadt, die von den Schrecken des deutschen Vernichtungskriegs in Osteuropa und den damit verbundenen Racheängsten berichteten. Diese Berichte, gepaart mit der nationalsozialistischen Propaganda, die die sowjetischen Soldaten als brutale „Untermenschen“ darstellte, schürten eine Atmosphäre der Panik. In Demmin selbst war die Situation angespannt. Die Wehrmacht und SS hatten die Stadt weitgehend verlassen, ebenso wie NSDAP-Funktionäre, der Bürgermeister und die Polizei. Zurück blieben vor allem Frauen, Kinder, ältere Menschen und Flüchtlinge, die unter der Aufsicht der SS monatelang Verteidigungsgräben und Panzersperren errichtet hatten, in der vergeblichen Hoffnung, den sowjetischen Vormarsch aufzuhalten.
Am 30. April 1945 erreichten die ersten sowjetischen Panzer Demmin. Die Wehrmacht hatte zuvor die Brücken über die umliegenden Flüsse gesprengt, was die Stadt zu einer Falle machte. Weder konnten die sowjetischen Truppen weiter nach Westen ziehen, noch hatten die Zivilisten eine Fluchtmöglichkeit. Eine weiße Fahne wehte vom Kirchturm der St. Bartholomaei-Kirche, und sowjetische Unterhändler hatten versprochen, bei kampfloser Übergabe Plünderungen und Übergriffe zu vermeiden. Doch die Situation eskalierte schnell. Einzelne Schüsse, möglicherweise von Hitlerjugend-Mitgliedern oder verzweifelten Zivilisten, sowie der Mord an sowjetischen Offizieren durch vergifteten Wein in der Adler-Apotheke führten zu einer unkontrollierten Reaktion der Roten Armee. Nach sowjetischem Kriegsrecht wurde Demmin für drei Tage zur Plünderung freigegeben. Die Stadt wurde systematisch in Brand gesetzt, etwa 80 Prozent der Altstadt zerstört, und es kam zu exzessiven Plünderungen, Massenvergewaltigungen und Morden. Frauen jeden Alters, von Kindern bis zu älteren Frauen, wurden Opfer sexualisierter Gewalt, und Männer, die Widerstand leisteten, wurden oft erschossen. Diese Gewaltorgie verstärkte die ohnehin vorhandene Panik und Verzweiflung unter der Bevölkerung.
Die Selbstmorde begannen bereits vor dem Eintreffen der Roten Armee, beschleunigten sich jedoch dramatisch nach deren Einmarsch. Die Methoden waren vielfältig und zeugen von der kollektiven Verzweiflung: Viele ertränkten sich in den Flüssen Peene, Tollense und Trebel, oft mit Steinen beschwert oder ihre Kinder an sich gebunden. Andere erhängten sich, vergifteten sich mit Zyankali, schnitten sich die Pulsadern oder erschossen sich und ihre Familien. Zeitzeugen berichteten von Szenen unvorstellbaren Grauens. Mütter, die ihre Kinder töteten, bevor sie selbst in den Tod gingen, Menschen, die in Panik Rasierklingen verteilten, oder Leichen, die tagelang in den Flüssen trieben. Besonders tragisch waren die sogenannten erweiterten Suizide, bei denen Eltern, meist Mütter, ihre Kinder mit in den Tod nahmen, um sie vor einem vermeintlich schlimmeren Schicksal zu bewahren. Die genaue Zahl der Opfer bleibt unklar, da viele Flüchtlinge ohne Papiere starben und die Dokumentation chaotisch war.
Die Ursachen des Massensuizids in Demmin sind komplex und vielschichtig. Die unmittelbare Angst vor der Roten Armee, geschürt durch die NS-Propaganda und die Berichte von Flüchtlingen, spielte eine zentrale Rolle. Viele fürchteten Rache für die Gräueltaten der Wehrmacht in Osteuropa, insbesondere nach den Massakern und Deportationen. Hinzu kam die ideologische Verblendung durch den Nationalsozialismus, der nur die Alternativen „Sieg oder Untergang“ gelten ließ und den Suizid als ehrenhafte Lösung propagierte. Aussagen von NS-Funktionären, die empfahlen, lieber zu sterben, als sich dem Feind zu ergeben, verstärkten diese Stimmung. Für viele war der Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ gleichbedeutend mit dem Ende jeglicher Lebensperspektive, insbesondere in einer Stadt wie Demmin, die stark nationalsozialistisch geprägt war und bei der Reichstagswahl 1933 überdurchschnittlich viele Stimmen für die NSDAP abgegeben hatte. Die physische Ausweglosigkeit durch die gesprengten Brücken, die Zerstörung der Stadt und die unkontrollierte Gewalt der Besatzer trieben die Menschen in einen Zustand kollektiver Hysterie. Historiker sprechen von einem „Ansteckungssog“, in dem die Suizidgedanken sich wie eine Epidemie verbreiteten.
In der Nachkriegszeit, insbesondere in der DDR, wurde der Massensuizid von Demmin tabuisiert, um die Beziehungen zur Sowjetunion nicht zu belasten. Erst nach der Wende begann eine schwierige Aufarbeitung. Zeitzeugen wie Heinz-Gerhardt Quadt, der als Kind miterlebte, wie seine Mutter am Ufer der Tollense vom Suizid abgehalten wurde, setzten sich für die Dokumentation der Ereignisse ein. Ein Findling auf dem Bartholomäi-Friedhof mit der Inschrift „Freitote, am Sinn des Lebens irre geworden“ erinnert heute an die Tragödie, ebenso wie ein „Garten der Erinnerung“ am Hafen der Peene. Doch die Erinnerung bleibt umstritten: Seit 2007 organisieren Rechtsextreme, insbesondere die Partei „Die Heimat“ (ehemals NPD), jährlich am 8. Mai einen „Trauermarsch“, um die Ereignisse für ihre Propaganda zu instrumentalisieren und einen deutschen Opfermythos zu konstruieren. Demgegenüber engagieren sich Initiativen wie das „Aktionsbündnis 8. Mai Demmin“ für ein differenziertes Gedenken, das die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht relativiert.
Der Massensuizid von Demmin ist mehr als ein lokales Ereignis; er spiegelt die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und die psychologische Zerrüttung einer Gesellschaft wider, die in die Katastrophe des Nationalsozialismus verstrickt war. Werke wie Florian Hubers Buch „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ oder Martin Farkas’ Dokumentarfilm „Über Leben in Demmin“ haben dazu beigetragen, diese Tragödie aus der Verdrängung zu holen. Dennoch bleibt die Aufarbeitung schwierig, da sie nicht nur die Opfer, sondern auch die Verantwortung und die komplexen Motive hinter den Selbsttötungen beleuchten muss. Demmin steht exemplarisch für das Leid, das der Krieg über die deutsche Zivilbevölkerung brachte, aber auch für die Notwendigkeit, Geschichte kritisch und ohne Vereinnahmung zu erinnern.
Quellen: MDR, Deutschlandfunk
