Titelbild: Reiner Koch, Polizei Berlin
Verschiedene Quellen, Polizei Berlin
Am 16. Januar 1973, einem kalten Dienstagabend in Berlin-Neukölln, verließ der zwölfjährige Reiner Koch gegen 16.30 Uhr die Turnhalle der Morusschule in der Morusstraße, wo er wie jede Woche sein Fußballtraining beim Verein Tasmania 1900 absolviert hatte. Reiner, ein kleiner Junge von gerade einmal 1,49 Metern Größe, der oft jünger wirkte als er war, mit hellen Haaren und einem unschuldigen Lächeln, das auf den wenigen Fotos von ihm bis heute erhalten geblieben ist, machte sich auf den Weg nach Hause. Die Strecke war ihm vertraut. Von der Schule aus führte sie ihn durch den Thomaspark hindurch, eine kurze, etwa zehnminütige Wanderung bis zur Altenbraker Straße 3, wo er mit seinen Eltern Ruth und Werner Koch in einem einfachen Mietshaus lebte.
Es war ein Alltagsszenario in einem Arbeiterviertel der geteilten Stadt, wo Kinder noch unbeschwert durch die Straßen streiften, ohne dass ständige Begleitung als notwendig galt.
Doch an diesem Abend kam Reiner nie an. Als er um 23 Uhr immer noch nicht zu Hause war, alarmierten seine verzweifelten Eltern die Polizei, und eine fieberhafte Suche begann, die die gesamte Nacht und den folgenden Mittwoch beherrschte. Suchhunde durchkämmten die Parks und Straßen von Neukölln, Lautsprecherwagen dröhnten durch die Wohngebiete, und der Polizeipräsident von Berlin setzte sogar eine Belohnung von 5000 D-Mark für brauchbare Hinweise aus, eine Summe, die in jenen Jahren eine kleine Familie ernähren konnte. Zeugenberichte tröpfelten herein. Jemand hatte den Jungen um 18.20 Uhr zuletzt auf dem Mittelweg in der Nähe des Eingangs zum Thomaspark gesehen, wie er fröhlich Richtung Park abbog. Von dort aus war er spurlos verschwunden, als hätte die dunkle Winternacht ihn einfach verschluckt.Zwei quälend lange Tage später, am 18. Januar 1973, ereilte die Familie die grausame Gewissheit.
Ein Polizeibeamter, der zufällig auf dem Heimweg war, entdeckte gegen Abend die völlig unbekleidete Leiche des Jungen an einer Laterne auf dem Gehweg der damaligen Stadionallee – heute Jesse-Owens-Allee – direkt vor dem imposanten Olympiastadion in Charlottenburg-Wilmersdorf. Der Fundort lag meilenweit entfernt von Neukölln, in einem anderen Bezirk Berlins, was die Ermittler von Anfang an vor Rätsel stellte. Reiner war brutal ermordet worden.
Er war erwürgt, sein Körper von mehreren Stichverletzungen gezeichnet, und die Obduktion ergab zweifelsfrei, dass er Opfer eines Sexualverbrechens geworden war. Die Szene war schockierend – der Junge lag ausgestellt, als wollte der Täter ihn zur Schau stellen, in einer Gegend, die für ihre nächtlichen Schatten und die Nähe zu den ausgedehnten Grünflächen des Westens bekannt war. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Zeitungen wie der Tagesspiegel titelten von einem „zweifelsfreien Mordfall mit sexuellen Motiven“, und die Öffentlichkeit war entsetzt über die Brutalität, mit der ein Kind in der eigenen Heimat angegriffen worden war. Berlins geteilte Realität, mit ihren Spannungen zwischen Ost und West, schien in diesem Moment fern; es war ein Verbrechen, das die gesamte Gesellschaft erschütterte, ein Symbol für die verborgenen Gefahren in den scheinbar sicheren Straßen der 1970er Jahre. Nur einen Tag später, am 19. Januar, kam ein weiterer Hinweis, der die Ermittlungen noch verwickelter machte. Auf der Fahrbahn vor dem Grundstück Mohriner Allee 158 im benachbarten Britz, einem ruhigen Wohnviertel in Neukölln, fanden Passanten Reiners Kleidung – die Hose, die Schuhe und weitere Stücke, die er beim Training getragen hatte – ordentlich in Plastiktüten verpackt und achtlos hingeworfen.

Plastiktüte, Polizei Berlin,1973
Es war, als hätte der Täter die Spuren seiner Tat methodisch beseitigen wollen, doch die Tüten deuteten auf eine gewisse Planmäßigkeit hin, vielleicht sogar auf jemanden, der mit Alltagsgegenständen hantierte, um keine unnötigen Fingerabdrücke zu hinterlassen. Die Polizei stellte die Kleidungsstücke sicher, fotografierte sie detailliert – Bilder, die heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, erneut veröffentlicht werden, um Erinnerungen zu wecken. Die abgetretene Hose, die einfachen Schuhe eines Kindes, die nun stumme Zeugen einer unvorstellbaren Tragödie sind. Die Mordkommission, unter enormem Druck, verhörte Hunderte von Zeugen, durchsuchte Parks und Stadien, prüfte Alibis von Trainern, Nachbarn und Passanten. Verdächtige tauchten auf und verschwanden wieder. Ein Mann, der in der Nähe des Thomasparks öfter herumlungerte, ein Stammgast der Eckkneipe „Thomas-Eck“ in der Thomasstraße, der an jenem Dienstagabend auffällig viel getrunken hatte. Doch nichts führte zu einer Anklage. Die Akte wuchs an, füllte Regale mit Protokollen, Zeichnungen und Phantomskizzen, doch der Täter blieb ein Phantom. In den folgenden Monaten und Jahren ebbte die intensive Suche ab; der Fall wanderte in die Schublade der ungelösten Verbrechen, ein Cold Case, der die Familie Koch nie losließ. Ruth und Werner, gezeichnet von der Trauer, kämpften mit der Leere, die ihr Sohn hinterlassen hatte, während Berlin sich wandelte – die Mauer stand noch, aber die Stadt pulsierte mit neuen Geschichten, die diese alte Wunde überdeckten.
Mehr als 52 Jahre später, im Oktober 2025, atmet der Fall plötzlich wieder. Das Landeskriminalamt Berlin, speziell die Abteilung für Cold Cases, nimmt die Ermittlungen neu auf, gestützt auf Fortschritte in der Forensik und DNA-Analyse. Neue Hinweise sickern durch – etwa der Sohn eines verstorbenen Mannes, Sven W. aus Reinickendorf, der fassungslos von einer Speichelprobe erfährt, die das LKA von ihm einfordert, um zu prüfen, ob sein Vater, nun 59 Jahre nach dem Tod, mit dem Mord in Verbindung stand.
„Das haut einen um“, gesteht er in Interviews, während die Polizei alte Proben mit modernen Methoden vergleicht. Die Staatsanwaltschaft Berlin setzt eine Belohnung von bis zu 5000 Euro aus, eine Geste, die an die damalige Prämie anknüpft, und wendet sich in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY – ungelöst“ am 8. Oktober 2025 an die Öffentlichkeit.
Die Ermittler bitten gezielt um Erinnerungen. Wer war 1973 Stammgast im „Thomas-Eck“ und kann sich an den 16. Januar erinnern, vielleicht an einen Fremden, der mit einem Kind sprach? Wer hat in der Nacht vom 17. auf den 18. Januar verdächtige Bewegungen nahe der Stadionallee bemerkt, ein Auto, das hielt, oder Schatten im Olympiapark?
Und die Nacht zum 19. Januar an der Mohriner Allee – ein Fahrzeug, das Müll entsorgte, oder ein Mann, der Tüten ablud? Die Fotos der Kleidung, die Route durch den Thomaspark, die Thomasstraße und die Altenbraker Straße – all das wird neu beleuchtet, in der Hoffnung, dass jemand, der damals jung war, nun alt und weise, ein Detail teilt, das den Kreis schließt. Der Mord an Reiner Koch ist mehr als ein Aktenordner; er ist ein offenes Kapitel in Berlins dunkler Geschichte, ein Mahnmal für die Verletzlichkeit der Kindheit und die Beharrlichkeit der Justiz. Solange der Täter nicht zur Rechenschaft gezogen ist, bleibt die Wunde frisch, und die Familie, die Stadt, die Gesellschaft warten auf Gerechtigkeit, die vielleicht endlich greifbar wird.
Hinweise werden erbeten: lka11-cc-hinweis@polizei.berlin.de oder an +49304664911911 Abteilung Cold Case,
Keithstraße 30, Tiergarten. 5000 Euro statt der 5000 DM Belohnung aus Januar 1973, die aufgehoben wurde.
