Lateinamerika

Chilenen lehnen neue Verfassung mit großer Mehrheit ab

Osorno, Chile. 4. September 2022.


Titelbild: Die Chilenen stimmen über die Annahme oder Ablehnung des neuen Verfassungsentwurfs ab. Der Entwurf wird die aktuelle Verfassung ersetzen, die während der Diktatur von Augusto Pinochet am 4. September 2022 in Osorno, Chile, eingeführt wurde (Foto: Fernando Lavoz/NurPhoto)

Santiago de Chile, Chile

Die Chilenen haben mit großer Mehrheit den Entwurf einer neuen Verfassung abgelehnt. In einem Referendum am Sonntag sprachen sich knapp 62 Prozent gegen den Text aus, wie die Auszählung von mehr als 99 Prozent der Stimmen ergab. Für den linksgerichteten Präsidenten Gabriel Boric, der seit einem halben Jahr amtiert, bedeutet der Ausgang der Volksabstimmung eine herbe Niederlage. Er kündigte umgehend an, einen neuen Verfassungsprozess einleiten zu wollen.

15 Millionen Menschen waren zu der Abstimmung aufgerufen gewesen. Die Umfragen hatten zwar eine Ablehnung des Verfassungsentwurfs vorhergesagt – aber nicht mit dieser Deutlichkeit. Der Entwurf war allerdings von Anfang an hochumstritten gewesen, vor allem wegen der vorgesehenen Rechte für die Ureinwohner. Die Indigenen machen etwa 13 Prozent der Bevölkerung des südamerikanischen Landes aus. Der Entwurf hätte ihnen größere Autonomie und eine eigene Rechtsprechung zugestanden.

Der 178-seitige Entwurf für einen „sozialen und demokratischen Rechtsstaat“ sah auch das Recht auf Abtreibung und eine Verankerung des Umweltschutzes in der Verfassung vor. Durch sein Scheitern bleibt vorerst die alte Verfassung in Kraft, die noch aus der Zeit der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet (1973-1990) stammt.

Boric hatte den neuen Verfassungstext unterstützt. In einer Ansprache aus dem Präsidentenpalast räumte er seine Niederlage ein. Zugleich versprach der frühere Studentenführer, weiterhin an politischen Reformen zu arbeiten und „alles in meiner Macht Stehende zu tun, um einen neuen Verfassungsprozess auf den Weg zu bringen“.

Das Volk zähle auf die Demokratie, „um Differenzen zu überwinden und voranzukommen“, sagte der 36-jährige Präsident. Er appellierte an „alle politischen Kräfte“, ihre Meinungsverschiedenheiten  zurückzustellen und sich auf die Konditionen und Fristen eines neuen verfassunggebenden Prozesses zu verständigen.

Der ultrakonservative Oppositionspolitiker José Antonio Kast, ein Bewunderer Pinochets, sagte: „Präsident Boric: Diese Niederlage ist auch Ihre Niederlage“. Kast hatte im Dezember eine Stichwahl für das Präsidentenamt gegen Boric verloren.

Hauptauslöser des verfassunggebenden Prozesses waren die sozialen Unruhen des Jahres 2019 gewesen. Viele Menschen führten die gewachsenen gesellschaftlichen Ungleichheiten auf die alte Verfassung zurück. Diese wurde zwar seit 1990 mehrfach reformiert, lässt der Privatwirtschaft jedoch weiterhin freie Hand in vielen Bereichen.

In einem Referendum im Oktober 2020 hatte sich eine klare Mehrheit für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ausgesprochen. Erarbeitet wurde der nun gescheiterte Entwurf von einer Versammlung aus 154 Mitgliedern, darunter 17 Vertreterinnen und Vertreter der indigenen Minderheiten.

kbh/dja

© Agence France-Presse

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