Titelbild: Martin Kraft
Eine der außergewöhnlichsten Persönlichkeiten der Nachkriegsgeschichte verstarb gestern um Alter von 103 Jahren. Margot Friedländer. Margot Friedländer, geboren am 5. November 1921 in Berlin als Anni Margot Bendheim, war eine deutsche Holocaust-Überlebende, Zeitzeugin und Autorin. Ihre Lebensgeschichte war geprägt von Verfolgung, Widerstand, Überleben und einem unermüdlichen Engagement für Toleranz, Menschlichkeit und gegen Antisemitismus.
Margot Friedländer wurde in eine jüdische Familie in Berlin geboren. Ihre Eltern, Artur Bendheim und Auguste Gross, führten ein gutbürgerliches Leben. Artur war Handlungsgehilfe und Kriegsveteran, Auguste betrieb ein Knopfgeschäft. Die Familie lebte zunächst in der Lindenstraße in Kreuzberg und später in einer großzügigen Wohnung in der Neuen Friedrichstraße.
1925 wurde Margots jüngerer Bruder Ralph geboren. Die Familie war säkular jüdisch, und Margot beschreibt ihre Kindheit als glücklich, geprägt von Ausflügen zum Scharmützelsee und einer Leidenschaft für Mode.
Die Scheidung der Eltern 1937 brachte Veränderungen. Margot und Ralph lebten bei ihrer Mutter in Kreuzberg. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten begann die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung. Nach der Pogromnacht 1938 musste Margot ihre Ausbildung zur Schneiderin abbrechen, da jüdische Schülerinnen nicht mehr zugelassen waren. Die Familie versuchte mehrfach zu emigrieren – in die USA, nach Brasilien oder China –, doch alle Versuche scheiterten.
1940 wurde Margot zur Zwangsarbeit in einem Rüstungsbetrieb gezwungen. 1942 wurde ihr Vater in einem Vernichtungslager ermordet. Am 20. Januar 1943 sollte die Familie gemeinsam fliehen, doch Ralph wurde von der Gestapo verhaftet. Margots Mutter stellte sich der Gestapo, um bei ihrem Sohn zu sein, und beide wurden nach Auschwitz deportiert, wo sie ermordet wurden. Auguste hinterließ ihrer Tochter eine Nachricht: „Versuche, dein Leben zu machen.“ Diese Worte wurden für Margot ein Lebensmotto.
Margot entging der Verhaftung zufällig und tauchte unter. Sie lebte 15 Monate lang in wechselnden Verstecken in Berlin, unterstützt von 16 mutigen Nicht-Juden, die ihr Leben riskierten. Um ihre Identität zu verschleiern, färbte sie ihre Haare tizianrot, trug eine Kette mit Kreuz und ließ ihre Nase operieren, um antisemitischen Stereotypen zu entgehen. Trotz der Hilfe wurde sie im April 1944 von jüdischen „Greifern“ – Juden, die unter Zwang für die SS arbeiteten – verraten und nach Theresienstadt depotiert.
Im Konzentrationslager Theresienstadt traf Margot Adolf Friedländer wieder, den sie vom Jüdischen Kulturbund kannte, wo sie als Kostümschneiderin und er als Verwaltungsleiter gearbeitet hatte. Beide hatten ihre Familien verloren. Sie überlebten das Lager gemeinsam und heirateten kurz nach der Befreiung durch die Rote Armee am 8. Mai 1945. Im Juli 1946 emigrierten sie nach New York.
In New York arbeitete Margot als Änderungsschneiderin und Reiseagentin, während Adolf in hohen Positionen bei jüdischen Organisationen tätig war. Das Paar führte ein zurückgezogenes Leben, sprach wenig über die Vergangenheit und kehrte nie gemeinsam nach Deutschland zurück. Nach Adolfs Tod 1997 besuchte Margot einen Kurs für biografisches Schreiben am jüdischen Kulturzentrum 92Y. Ihre erste Geschichte über die Befreiung aus Theresienstadt markierte den Beginn ihres Engagements als Autorin.
2003 nahm Margot eine Einladung des Berliner Senats an, ihre Heimatstadt zu besuchen. Der Dokumentarfilmer Thomas Halaczinsky begleitete sie und drehte den Film Don’t Call It Heimweh (2004). Nach mehreren Besuchen beschloss sie 2010, dauerhaft nach Berlin zurückzukehren, und ließ ihre deutsche Staatsbürgerschaft wiederherstellen. Seitdem lebte sie in einer Seniorenresidenz in Berlin und engagiert sich intensiv als Zeitzeugin.
Margot Friedländer besucht regelmäßig Schulen, Universitäten und andere Einrichtungen, um ihre Geschichte zu erzählen und junge Menschen zu Zivilcourage und Demokratie zu ermutigen. Ihre Autobiografie Versuche, dein Leben zu machen (2008, mit Malin Schwerdtfeger) beschreibt ihr Leben im Untergrund und ihre Erfahrungen im Holocaust. Das Buch wurde ein Bestseller, und Margot sprach die Hörbuchversion selbst ein. Weitere Veröffentlichungen umfassen das Interviewbuch Ich tue es für Euch (2021) und den Bildband Margot Friedländer zum 100. Geburtstag (2021).
Margot Friedländer wurde vielfach geehrt.
Bundesverdienstkreuz am Bande, verliehen von Bundespräsident Christian Wulff.
Verdienstorden des Landes Berlin.
Ehrenbürgerin Berlins,gemeinsam mit Inge Deutschkron. Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin.
Bundesverdienstkreuz erster Klasse.
Sonderpreis des Westfälischen Friedens, überreicht von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
2014 wurde der Margot-Friedländer-Preis von der Schwarzkopf-Stiftung ins Leben gerufen, um Projekte gegen Antisemitismus und Rassismus zu fördern. 2023 gründete Margot die Margot Friedländer Stiftung, die seit 2024 den Preis vergibt und ihre Zeitzeugenarbeit fortführt. Die Stiftung, unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Steinmeier, setzte sich für Toleranz, Demokratie und gegen Antisemitismus ein.
Margot Friedländer war bekannt für ihre warme, versöhnliche Art und ihre Botschaft: „Seid Menschen!“ Sie betonte die Bedeutung von Respekt und Demokratie und warnt vor wachsendem Antisemitismus. Ihre Rückkehr nach Berlin zeigte ihre tiefe Verbundenheit mit der Stadt, trotz der schmerzhaften Vergangenheit. Mit über 100 Jahren blieb sie aktiv, las aus ihren Büchern, gab Interviews und inspiriert weltweit.
Ihre Geschichte ist nicht nur ein Zeugnis des Überlebens, sondern auch ein Aufruf, die Lehren der Vergangenheit zu bewahren. Sie sagte: „Ich bin zurückgekommen, um mit euch zu sprechen, euch die Hand zu reichen. Es ist in eurer Hand, dass es nie wieder geschieht.“