Papillon reloaded
Titelbild: Beispielbild PixabayDer Roman „Papillon“ von Henri Charrière, der 1969 erstmals veröffentlicht wurde, gilt als eines der faszinierendsten Werke der Abenteuerliteratur des 20. Jahrhunderts und erzählt die angeblich autobiografische Geschichte eines Mannes, der unschuldig verurteilt wird, in die Hölle der französischen Strafkolonie in Französisch-Guayana deportiert und in einer Reihe atemberaubender Fluchtversuche seine Freiheit erkämpft. Charrière, geboren 1906 in Südfrankreich als Sohn eines Lehrers, wuchs in einer Zeit auf, in der Abenteuerlust und der Reiz des Verbotenen junge Männer wie ihn in die Unterwelt von Paris lockten; nach einer kurzen Zeit in der Marine ließ er sich als Kleinkrimineller nieder, als Safeknacker und Dieb, und erhielt seinen Spitznamen „Papillon“ aufgrund eines Schmetterlings-Tattoos auf der Brust, das symbolisch für seine Sehnsucht nach Freiheit stand.
Im Jahr 1931 wurde er des Mordes an einem Zuhälter namens Roland Legrand angeklagt – ein Verbrechen, das er bis zu seinem Tod vehement abstritt und das er als Racheakt von Rivalen in der Pariser Unterwelt darstellte –, wofür er zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt wurde und auf dem Weg in die Kolonie eine Odyssee begann, die ihn durch Kerker, Schiffe und tropische Höllen führte. In seinem Buch beschreibt er mit packender Intensität die Grausamkeiten des Bagno, des berüchtigten Gefängnissystems, wo Krankheiten wie Malaria Tausende dahinrafften, wo Wächter und Mitgefangene in einem Kreislauf aus Gewalt und Verrat gefangen waren und wo der bloße Überlebenskampf eine Heldentat darstellte; er schildert detailliert seine ersten Fluchtversuche, etwa den mit einem selbstgebauten Sack aus Kokosfasern, der ihn fast ertrinken lässt, oder den dramatischen Ausbruch mit Komplizen wie dem Falschgeldausführer Louis Dega, bei dem sie in einem winzigen Boot Tausende von Meilen über offenes Meer und durch Haifischgewässer rudern, um der Verfolgung zu entkommen. Der Höhepunkt seiner Erzählung ist die finale Flucht von der Teufelsinsel, wo er angeblich mit bloßen Händen Felsen bezwingt und durch unberührte Dschungel irrt, bis er schließlich in Venezuela Asyl findet und ein neues Leben als Restaurantbesitzer und Vater aufbaut, bevor er 1970 von der französischen Justiz begnadigt und als Volksheld gefeiert wird. Charrière schrieb das Buch erst Jahre später, nach seiner Rückkehr nach Europa, in einer Phase der Reflexion, in der er 13 Hefte mit Notizen füllte, und er betonte immer wieder, dass es sich um seine wahre Geschichte handle, eine Anklage gegen die Ungerechtigkeit des Systems und ein Tribut an die unzerbrechliche menschliche Willenskraft.
Doch der Wahrheitsgehalt dieses epischen Narrativs ist seit der Veröffentlichung Gegenstand hitziger Debatten unter Historikern, Journalisten und Literaturkritikern, die das Werk als eine Mischung aus Fakt und Fiktion entlarven, als einen Roman, der zwar auf realen Erlebnissen basiert, aber in weiten Teilen aus den Geschichten anderer Häftlinge geschöpft und dramatisch überhöht wurde, um die Leser zu fesseln. Moderne Forscher, darunter der Journalist Gérard de Villiers in seinem Buch „Papillon épinglé“ von 1970, schätzen, dass nur etwa zehn Prozent der Ereignisse der reinen Wahrheit entsprechen, während der Rest – von der heroischen Rettung einer Wärtertochter vor Haien, die tatsächlich ein anderer Häftling namens Alfred Steffen vollbrachte, der dabei beide Beine verlor und starb, bis hin zu den detaillierten Beschreibungen von Fluchtrouten und Begegnungen mit indigenen Stämmen – aus den Erzählungen von Zellengenossen wie René Belbenoit oder Johnny King übernommen und Charrière selbst zugeschrieben wurde. Ein Bericht des französischen Justizministeriums aus den 1970er Jahren ging sogar so weit, zu fordern, die Inhalte des Buches „mindestens durch zehn zu teilen, um der Wahrheit nahe zu kommen“, und wies auf Ungenauigkeiten hin, wie die falsche Darstellung der Teufelsinsel als steil abfallende Klippen-in Wirklichkeit fällt sie sanft zum Meer ab- oder fehlerhafte Datierungen von Ereignissen, auf die Charrière mit dem lakonischen Kommentar reagierte: „Ich hatte keine Schreibmaschine dabei.“ Der ehemalige Paris-Match-Reporter Georges Ménager enthüllte in „Les quatre vérités de Papillon“ zudem, dass Charrières Vorstrafen nicht nur Diebstähle umfassten, sondern auch als Zuhälter und Polizeispitzel, was den Protagonisten in einem weniger heldenhaften Licht erscheinen lässt und andeutet, dass er die Schuld am Mord vielleicht doch nicht so unschuldig von sich weisen konnte. Besonders pikant ist der Fall des 104-jährigen Charles Brunier, der 2005 in Paris auftrat und behauptete, der „echte Papillon“ zu sein – ein Mann mit demselben Schmetterlings-Tattoo, der zur selben Zeit in der Kolonie inhaftiert war und Charrière als Zuhörer seiner Geschichten inspirierte, was die Vermutung nährt, dass das Buch weniger eine Autobiografie als ein kollektives Zeugnis der Häftlinge ist, ein Mosaik aus Leidensgeschichten, das Charrière als begabter Erzähler zu einem kohärenten Epos webte.
Dennoch bleibt der Reiz des Romans ungebrochen: Selbst wenn die Fakten verdichtet und ausgeschmückt sind, fängt „Papillon“ den Kern der Realität ein – die erdrückende Brutalität des Kolonialsystems, die Zerstörung von Körper und Seele durch Zwangsarbeit und Isolation, die Bande der Solidarität unter Ausgestoßenen und die trügerische Verheißung von Freiheit in einer Welt, die sie zu ersticken droht. Charrière, der 1973 in Madrid starb, schuf mit diesem Werk nicht nur einen Bestseller, der Millionen verkaufte und Filme mit Stars wie Steve McQueen inspirierte, sondern auch eine zeitlose Metapher für den menschlichen Drang nach Autonomie, die über die Grenzen von Wahrheit und Erfindung hinausgeht und Leser weltweit dazu bringt, über Gerechtigkeit, Überleben und die Grenzen des Möglichen nachzudenken, auch wenn die Schmetterlingsflügel des Helden letztlich mehr aus Tinte als aus Fleisch bestehen.
